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Der Himmel über der Heide (German Edition)

Der Himmel über der Heide (German Edition)

Titel: Der Himmel über der Heide (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofie Cramer
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Staub.
    Die Kiste gab den Blick frei auf ein Durcheinander von Fotos, Papieren und Briefen. Vorsichtig strich Kati mit den Fingern über die vergilbten Umschläge. Einige davon hatte sie selbst an Jule geschrieben. Damals, als ihre Schwester wegen einer Mandelentzündung nicht an der Klassenfahrt ins Landschulheim hatte teilnehmen können. Kati zog einen der Briefe heraus und überflog ihn. Eigentlich enthielt er nur Belanglosigkeiten. Sie hatte den seltsam durchstrukturierten Tagesablauf und das Ausflugsprogramm beschrieben. Und sie machte sich über Mitschüler, Küchendienste und Speiseplan lustig. Aber Kati hatte wie versprochen alles notiert, um ihre Schwester gedanklich mit auf die Klassenreise zu nehmen.
    Schmunzelnd legte sie den Brief zurück und blätterte weiter. Die meisten Umschläge waren mit Pferdestickern versehen. Auch einige Postkarten mit Pferdemotiven waren unter den Papieren sowie handgeschriebene Notizzettel, auf denen Jule ihre Lieblingssongs aufgelistet hatte. Gleich darunter fand Kati die entsprechenden Kassetten, die mit Musik aus den 90ern bespielt waren. Die Beschriftung war noch nicht ganz verblasst, und Kati erkannte die krakelige Handschrift ihrer Schwester. An diesem Punkt hatten sich die Zwillingsschwestern deutlich unterschieden, denn im Gegensatz zu ihr hatte Jule keine schöne Handschrift gehabt.
    Nachdem Kati alle Kassetten aufs Bett gelegte hatte, gab die Kiste einen weiteren Schatz frei. In einer Plastikhülle lag der geflochtene Haarzopf, den Jule sich mit einer Küchenschere selbst abgeschnitten hatte. Zusammengehalten wurde der Zopf von einem bunten Gummiband, wie sie es damals beide benutzten.
    Kati konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie einen Tag nach ihrem 15. Geburtstag beschlossen hatten, sich ihre langen Haare abzuschneiden. Jule hatte damals als Erste nach der Schere gegriffen und sich von dem Zopf getrennt. Auch bei Kati war sie beherzt vorgegangen und hatte die Haarpracht mit einem einzigen Schnitt bis auf Schulterhöhe gekürzt. Alleine hätte Kati sich das nie getraut. Jedenfalls nicht, ohne die Großmutter um Erlaubnis zu fragen. So war es immer gewesen. Während Kati bei allem zögerte, war Jule stets die mutigere gewesen. Egal, ob es sich um den Sprung über die Brunau oder das Erklimmen ihres Kletterbaums bis zur Krone handelte. Kati hatte das oft bewundert.
    Sie legte den Haarzopf zurück und betrachtete ein paar Fotos. Auf den meisten Aufnahmen waren Jule und sie zusammen zu sehen. Als Kinder kleideten und frisierten sich beide gerne betont gleich. Und sie hatten immer einen Riesenspaß, wenn sie Nachbarn oder sogar die eigene Großmutter hereinlegen konnten mit ihrem Spiel: Wer ist wer? Einzig ihr Vater war imstande, sich nicht von ihnen narren zu lassen.
    Kati erinnerte sich aber auch noch an die krampfhaften Versuche in der Pubertät, sich von dem jeweils anderen Zwilling abzugrenzen. Es gab Bilder, da hatten sie sich alle Mühe gegeben, verschieden auszusehen. Kati nahm eine Aufnahme aus dem Sommer hoch, in dem sie 13 oder 14 Jahre alt gewesen sein mochten. Jule mit Pferdeschwanz und Jeans und grell geschminkt, sie selbst mit Zöpfen und im Kleid.
    Als Kati einen Stapel Fotos aus der Kiste nehmen wollte, fiel ihr Blick auf ein Büchlein mit hellrotem Einband. Jules Tagebuch.
    Lange starrte sie es einfach nur an. Dann hob sie es aus der Kiste und strich behutsam über den Einband. Mit zitternden Fingern zeichnete ihr Finger das Wort «Juliane» nach, das in goldenen Lettern auf den Einband geprägt worden war, bevor sie das Büchlein vorsichtig öffnete.
    Im Alter von 13 Jahren hatte Jule mit dem Tagebuchschreiben begonnen. Kati konnte sich noch gut daran erinnern. Beide hatten sie zum Geburtstag ein mit rotem Stoff eingebundenes Buch geschenkt bekommen. Während Kati die Seiten für ihre Skizzen nutzte, fing Jule an, ihre Gedanken darin festzuhalten. Die ersten Eintragungen waren fast täglich erfolgt. Kati hatte sich fast ein wenig ausgeschlossen gefühlt. Später wurden die Zeitabstände immer größer. In dem Jahr, in dem Jule mit Andi zusammenkam, schrieb sie wieder regelmäßiger.
    Auf den Seiten war zu lesen, wie sich ihre Liebe entwickelt hatte. Zwei Sommer lang waren Andi Witthöft und die Weidemann-Zwillinge unzertrennlich gewesen.
    Kati hatte sich ganz in die Lektüre vertieft und nahm von ihrer Umwelt so gut wie nichts mehr wahr. Sie hörte nicht den Lärm vom Parkplatz, wo gerade eine Reisegruppe eingetroffen war. Sie spürte nicht

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