Der Himmel über der Heide (German Edition)
ein leckeres Eis zu gönnen.
Kati lehnte das Fahrrad an einen Pfahl und stellte sich brav in die Schlange, die überwiegend aus Touristen, hauptsächlich jungen Familien, bestand. Als sie sich dem Tresen näherte und den Besitzer der Eisdiele wiedererkannte, musste sie grinsen. Denn Toni persönlich bediente seine Kunden tatsächlich noch mit der gleichen Begeisterung wie eh und je.
«Ich hätte gern drei Kugeln», erklärte Kati, als sie an der Reihe war. «Sahne-Kirsch, Haselnuss und …»
«Stracciatella?», fiel Toni ihr ins Wort. «Ciao, bella!», fügte er hinzu und lächelte herzlich. «Dich habe ich ja eine Ewigkeit nicht gesehen!»
«Das stimmt», sagte Kati beinahe verlegen, «dass du dich noch an mich erinnerst …»
Toni schien extragroße Kugeln für sie zu formen, denn sie passten kaum auf die Waffel. Kati war überrascht und gerührt zugleich. Sie wusste nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte und befürchtete, Toni könnte nach ihrer Schwester fragen.
Als Kind hatte Kati nie darüber nachgedacht, dass sie oft gar nicht als Individuum, als einzelnes Mädchen wahrgenommen wurde, sondern immer als eine der beiden Heidehof-Schwestern. Jule und sie waren Zwillingsschwestern und hatten sich wirklich sehr ähnlich gesehen. Außerdem war es normal gewesen, alles miteinander zu teilen und praktisch jede freie Minute zusammen zu verbringen. In den Schulpausen, nach den Hausaufgaben und in den Ferien. Vermutlich wäre es irgendwann zu einer räumlichen Trennung gekommen. Sie hätten ja schlecht für den Rest ihres Lebens wie siamesische Zwillinge aneinanderkleben können. Ein Alltag ohne Jule wäre für Kati zwar ungewohnt und mit einem gewissen Schmerz verbunden gewesen. Doch das, was dann passiert war, fühlte sich für sie an wie eine Amputation, deren Wunde auch nach über zehn Jahren nicht verheilt war.
Schnell verabschiedete sie sich und balancierte das Eis vorsichtig zum Fahrrad. Mit der freien Hand schob sie es zu einer Parkbank, auf der gerade ein Platz frei wurde. Sie setzte sich und beobachtete die Leute, während sie ihr Eis genoss. Es schmeckte tatsächlich noch genauso gut wie damals.
Kati seufzte. Wie lange war es eigentlich her, dass sie mit einem Eis in der Sonne gesessen hatte? Ohne Termindruck, ohne Stress? Und plötzlich durchfuhr sie ein kleines Glücksgefühl. Und obwohl sie nicht wusste, wie es in ihrem Leben weitergehen würde, versuchte sie, diesen kostbaren Augenblick einfach zu genießen.
***
Als Kati wenig später den Rückweg antrat und kurz vor Uhlendorf die letzte große Kurve nahm, sah sie in etwa fünfzehn Metern Entfernung ein Mofa auf dem Fahrradweg stehen.
Der Fahrer hatte seinen Helm auf den Knien abgelegt und versuchte ungeschickt eine größere Landkarte zusammenzufalten. Schon von weitem hörte Kati ihn fluchen.
Als sie sich dem verschwitzten jungen Mann näherte, musste sie lächeln. Er trug legere Sportschuhe, und sein hellblaues Hemd fiel locker über die dunkle Anzugshose.
«Na, kein Smart-Phone dabei?», sagte sie im Vorbeifahren.
Verdutzt hob der Mann den Kopf und sah ihr nach. «Akku ist leer.» Er grinste schief. Dann rief er ihr hinterher: «Kennst du dich hier aus? Ich glaub, ich hab mich verfahren. Hier sieht ja ein Weg wie der andere aus.»
«Wo soll’s denn hingehen?» Kati stieg vom Rad und schob es die paar Meter zurück.
«Nach Uhlendorf zum Heidehof. Kennst du den?»
Kati unterdrückte ein Grinsen und nickte. «Ich glaube, ich weiß, wo der ist. Da musst du hier geradeaus weiterfahren.» Sie zeigte in die entsprechende Richtung. «An der nächsten Abzweigung links ab, dann noch ungefähr einen Kilometer die Hauptstraße weiter und an der Tankstelle wieder links. Nach etwa dreihundert Metern siehst du dann auf der rechten Seite den Heidehof liegen.»
«Cool. Vielleicht schaffe ich es doch noch rechtzeitig zu meinem Termin. Danke!»
Kati musterte ihr Gegenüber interessiert. Wollte der Mann sich etwa als Aushilfe vorstellen? Dorothee hatte ihr gar nichts von einem Termin gesagt.
Als Zimmermädchen kam der Typ aber wohl nicht in Frage. Seine schweißnassen, mittelblonden Haare kringelten sich kreuz und quer über der Stirn. Die Ohren waren ein wenig zu groß, wohingegen die Nase etwas zu kurz wirkte. Aber seine blauen Augen strahlten etwas Freundliches aus, und er machte insgesamt einen ziemlich sympathischen Eindruck.
«Ich hoffe, dein Termin ist nicht allzu förmlich.»
Kati deutete auf einen großen, kalkartigen Fleck auf
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