Der Himmel über New York (German Edition)
komm mal mit in die Galerie«, sagt er, nimmt mich an der Hand, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, und öffnet eine Tür.
»Wir sind nämlich nicht nur eine Wohngemeinschaft«, sagt er, »wir machen auch Kunstprojekte zusammen.«
Das Zimmer dahinter ist leer bis auf die Bilder an den Wänden. Fotocollagen und Bleistiftzeichnungen von Slam-Dichtern mit dem Mikrofon an den Lippen (eine davon zeigt Leroy), großformatige Landschaftsbilder, ein Gemälde mit einer Comicfigur in Öl.
Wahrscheinlich sollte ich das jetzt irgendwie finden. Spannend oder kreativ oder altmodisch oder abgeschmackt. Aber das geht nicht. Ich kann jetzt keine Meinung zu irgendwelchen Zeichnungen haben. Viel wichtiger ist es, dass ich mit Leroy in diesem Zimmer stehe. Hand in Hand. Was mich betrifft, könnten die Wände auch mit dem Wirtschaftsteil der New York Times tapeziert sein. Oder mit echten van Goghs. Völlig egal.
»Chang ist Künstler, wir organisieren hier die Lesungen. Bob managt alles. Herumtelefonieren, Getränke bestellen und so.«
»Dieser Bob, du scheinst ihn sehr zu mögen.«
»Er ist ein toller Erzähler. Bühnenreif. Du müsstest ihn hören, wenn er von seiner Jugend erzählt. Das volle Woodstock-Programm, Drogen, Liebe, was du willst. Bevor er den Unfall hatte.«
Leroy hat meine Hand immer noch nicht losgelassen. Immer noch ist es das Selbstverständlichste der Welt. Welcher Unfall, könnte ich jetzt fragen, was ist mit seinem Bein passiert? Aber gleichzeitig habe ich Angst, dass meine Stimme zu laut ist in dem stillen Zimmer, dass sie den Augenblick zerstört.
Sonnenlicht fällt durch das Fenster. Leroy riecht nach Leroy. Wir stehen schweigend vor der Bilderwand. Dann wendet er sich mir zu.
»Jenny?«
»Ja?«
»Darf ich dich etwas fragen?«
»Kommt ihr zum Essen?«, ruft jemand über den Flur.
Erst jetzt lässt Leroy mich los.
»Und du?«, fragt Bob mich später und fixiert mich über den Rand seines halb vollen Tellers, während er sich unbekümmert eine Zigarette anzündet. »Was machst du so in New York?«
Ich hefte meinen Blick auf den Ständer mit den dünnen Papierservietten, der aussieht, als hätte ihn jemand in einem Fast-Food-Lokal mitgehen lassen.
»Weiß noch nicht so genau«, sage ich schließlich. »Leben, vielleicht?«
»Oh ja«, er lacht, »da bist du ganz richtig hier. Das kann man hier lernen. New York ist eine Freilicht-Uni fürs Leben, das Studium dauert üblicherweise fünf bis neun Jahrzehnte. Und einen ordentlichen Abschluss kann man nie erwerben «
Ich würde gern auf seinen Scherz eingehen. Aber leider, leider bewegt sich Leroys Bein unter dem Tisch so gefährlich nah an meinem, dass ich akute Konzentrationsprobleme habe.
»Also, das ist so«, beginne ich und erzähle in knappen Worten von meinem Vater, von meiner Reise, von meiner Unterkunft in einem Diner in Queens. Dass ich herausfinden möchte, was ich mit meinem Leben anfangen will.
»Und?«, fragt Lydia. »Hast du denn schon eine Idee?«
»Nicht so richtig. Jura vielleicht. Oder Marketing.«
Aus den Augenwinkeln kann ich sehen, wie mich Leroy verblüfft ansieht. Was hat er denn?
»Klingt nicht sehr begeistert«, bemerkt Lydia und stochert in ihren halb verkohlten Bohnen herum.
»Nein, aber vielleicht ist es realistisch. Die anderen aus meinem Abi-Jahrgang tun so, als hätte die Welt auf sie gewartet. Lauter Kreative, einer will Musiker werden, der andere Künstler. Ich meine, da kann ja jeder kommen und glauben, sein Weg führt nach Hollywood. Und man weiß doch, wie wenige es wirklich schaffen.«
»Wieso eigentlich Jura?«, fragt Leroy dazwischen. »Ich dachte, du wirst Schauspielerin?«
Verdammt. Ich beiße mir schnell auf die Unterlippe. Wenn ich schon versuche, cool zu sein, dann muss ich die Rolle auch durchziehen. Gerne würde ich das Thema wechseln, aber keiner macht mit. Es ist eher, als hätte ich ihnen genau das richtige Stichwort geliefert.
»Schauspielschulen sind scheiße«, sagt Lydias Freund Paco und nuckelt hingebungsvoll an einer Bierflasche. »Das hab ich gemerkt, als ich auf dem College in Los Angeles war. In keiner anderen Stadt kann man so gut beobachten, was aus den Leuten wird. Die hängen ihre Träume jedes Jahr tiefer. Erst hoffen sie auf eine Nebenrolle im neuesten Film mit George Clooney. Dann machen sie sich krumm, um in einem Werbspot mitspielen zu dürfen. Zum Schluss gehen sie mit den Besitzern von Restaurants ins Bett, in denen die Stars ab und zu essen. Und zwar nur, weil
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