Der Himmel über New York (German Edition)
die Brauen hochgezogen. Sonst ist ihr Gesicht unbewegt. Ihre Augen schimmern blaugrün. Sie sieht der Frau ähnlich, die mit einer Sonnenblume im Central Park posiert. Lady Liberty. Dann fingert sie in ihrer Hosentasche und knallt ein paar Geldscheine vor mir auf die Ablage. »Die Miete. Für die zweiten 14 Tage. Ich will dir nichts schuldig bleiben.«
Die Räder an meinem Koffer sind zu klein. In jeder Rille zwischen den Gehwegplatten hängen sie fest. Ein schwarzer Hund bleibt stehen und schnüffelt an dem Metallschloss unter dem Ledergriff. Wir schauen uns in die Augen. Schöne Augen, wie Honigtöpfe mit bernsteinfarbenen Einsprengseln. Er trägt keine Leine und kein Halsband. Kein Herrchen weit und breit. »Hallo, Kumpel!«, begrüße ich ihn.
Beim Weitergehen versuche ich, nicht auf die Rillen zwischen den Steinplatten zu treten. Ein Kinderspiel, aber ich kann alles gebrauchen, was Glück bringt. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich keinen Ort, an den ich gehen könnte. Falsch: keinen Ort, auf den ich ein Recht habe, keinen, an dem ich zu Hause bin.
Irgendwo in der großen Stadt klingelt ungehört ein Handy, dann springt Leroys Mailbox an. Na toll. Max ist zu Hause, wenn ich es nicht gebrauchen kann, und Leroy geht nicht ran, wenn ich ihn brauche. Außerdem ist es vermutlich extrem uncool, drei Stunden nach der ersten gemeinsamen Nacht bei einem Mann anzurufen. Und noch uncooler, unangemeldet vor seiner Tür aufzutauchen.
Egal. Das hier ist ein Notfall. Erst einmal nichts wie raus aus Queens.
Während die U-Bahn unter dem East River hindurch in Richtung Manhattan taucht, stehe ich eingezwängt zwischen der Tür und einer großen dicken Frau in einer geblümten Kittelschürze. Dabei versuche ich, den Kontakt mit dem imposanten Haarbusch unter ihren Achseln zu vermeiden. Das ist gar nicht so einfach, denn sie hält sich an der Stange über unseren Köpfen fest. So steigt mir bei jedem Atemzug eine Mischung aus billigem Deo und Schweiß in die Nase. An ihren Härchen vorbei kann ich ein Werbeplakat über der gegenüberliegenden Tür lesen.
»Depressionen sind kein seelisches, sondern ein biochemisches Problem. Medikamente helfen.« Darunter, in fetten roten Buchstaben, CALL 1-800-DEPRESSION.
Es ist schwierig, am Times Square stehen zu bleiben. Der Menschenstrom fließt hier rasch und regelmäßig durch die Straßen, und jeder, der aus dem dunklen Bauch der U-Bahn auftaucht, wird weggeschwemmt. Eine Gruppe von Touristen mit Shorts und Disneyland-Baseballkappen hält sich am Gitter eines Lüftungsschachtes fest, um nicht mitgerissen zu werden. Anzugträger starren auf eine Leinwand auf dem Dach eines Wolkenkratzers, auf der ein Baseballspiel gezeigt wird. Rechts und links der Leinwand rasen rote Digitalziffern vorbei: Aktienindices, Euro-Kurs, Temperaturvorhersagen, Datum und Zeit. Auf die Leinwand ist eine gigantische Kaffeetasse aus Stahl montiert. In regelmäßigen Abständen pustet sie Wasserdampfwolken in die Luft.
Neue Zeilen für mein New-York-Gedicht, und nichts zum Schreiben dabei.
Blas mir heiße Atemluft
Aus Hunderten von Gitterrachen ins Gesicht
Du riechst nach Kaffee, Kohlenmonoxid
Nach Mensch und Müll und Muffins
Die etagenhohen Filmplakate machen mich schwindlig. Gebäude in allen Schattierungen von Sandstein bis Chrom wachen wie neuzeitliche Dinosaurier über die Straßenkreuzung. Die Wassertürme auf ihren Dächern glänzen und bündeln die Mittagssonne auf ihrem heißen Blech.
In einem Hauseingang in einer Seitenstraße versuche ich noch einmal, Leroy zu erreichen. Wieder nichts. Was, wenn er zwei Schichten hintereinanderfährt? Oder nach der Arbeit verabredet ist? Ich könnte ihm eine Nachricht hinterlassen, aber ich zögere. Dann wäre wieder ich diejenige, die warten muss. Und ich möchte mich nicht so schutzlos fühlen. Zum ersten Mal, seit ich meinen Koffer durch die Schwingtür von Annes Family Diner gewuchtet habe, wird mir mulmig zumute. Ich beende den Anruf und tippe eine neue Nummer ein.
Meine Finger finden die Tasten beinahe blind. Diese Nummer habe ich schon gewählt, wenn ich als Kind von Geburtstagsfeiern abgeholt werden wollte, wenn ich mich später auf Klassenfahrten langweilte. Diese Nummer gab es schon, als ich noch nicht geboren war. Ich möchte, dass mich einer tröstet, dass mir einer sagt, was zu tun ist, dass mich einer abholt und nach Hause bringt.
Nach dem fünften Klingeln springt ein Band an. »Wolfgang, Barbara und Jenny Ritter sind nicht zu Hause.
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