Der Hinterhalt
nie darüber, ob sie mit angesehen hatte, was sie ihrer Mutter angetan hatten, doch sobald sie alt genug war, stürzte sie sich in den Krieg. Manchen müssen wir beibringen, wie man hasst. Andere lernen es von selbst. Sie wurde zu einer hochrangigen Geheimdienst-Mitarbeiterin, der jüngsten aller Zeiten. Dass sie so schnell Karriere machte, lag an ihrer Aggressivität. Diese Aggressivität machte sie zu einem Hauptziel. Sie wurde zwei Wochen vor ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag ermordet. »Ich kann sie nicht leiden, Joe, und ich bin stolz darauf, dass ich im Kampf gegen sie meinen Teil beigetragen habe«, sagte Dan zu mir, während er fuhr, »aber zu viel Hass macht einen kaputt. Meine arme Tochter – ich weiß nicht, ob sie mehr als ein paar glückliche Tage in ihrem Leben hatte, nachdem sie mit ansehen musste, was mit ihrer Mutter geschah. Ich hatte deshalb immer ein schlechtes Gewissen.« Wir schwiegen eine Zeit lang. »Genug über mich, mein Junge. Was ist mit Ihnen?«, fragte er schließlich und schlug mir mit der Handfläche aufs Knie.
Ich hatte nicht vor, ihm viel zu erzählen. Was konnte ich ihm schon sagen? Sobald ich allerdings begonnen hatte zu sprechen, fiel es mir schwer, wieder aufzuhören. Ich erzählte ihm von meiner Kindheit in New Jersey und von meinen Verwandten, die im Krieg getötet worden waren. Ich erzählte ihm von meiner Arbeit und was es heutzutage bedeutete, »berufstätig« zu sein. Er war begeistert, Geschichten über den Krieg zu hören, und wollte möglichst viele Einzelheiten erfahren. Offenbar glaubte er, mein Leben sei extrem spannend. Für ihn war ich eine Art James Bond, auch wenn ich diesem Mistkerl Allen zufolge eine Schachfigur war. Ich erzählte ihm, dass meine beiden besten Freunde ebenfalls »berufstätig« waren. Es gefiel mir, diese Bezeichnung in Dans Gegenwart zu verwenden. Das vermittelte mir das Gefühl, ehrlich zu sein. Ich erzählte ihm alles über meine Abenteuer an der Küste von Jersey und schmückte die Geschichte an verschiedenen Stellen aus. Dan saugte jedes Detail regelrecht auf. Das Einzige, worüber ich ihm nichts erzählte, war Montreal. Ich erzählte ihm nicht von dir.
Nachdem wir ungefähr eine Stunde gefahren waren, bogen wir in eine kleine Seniorensiedlung namens Crystal Ponds unmittelbar außerhalb des Stadtkerns von Naples ein. Wir fuhren langsam durch das Viertel. Jeder, an dem wir vorbeikamen, winkte Dan zu, und Dan winkte allen zurück. Sämtliche Rasenflächen waren perfekt gepflegt, und in jedem Garten stand ein Fahnenmast, den eine flatternde US -Flagge zierte. Nachdem wir ein paar Mal langsam abgebogen waren, fuhren wir bis ans Ende einer Sackgasse und bogen schließlich in Dans Zufahrt ein. Bei Dans Haus handelte es sich um einen kleinen weißen Bungalow, vor dem sich ein winziger Teich befand. »Wir sind zu Hause, mein Junge«, sagte Dan zu mir, nachdem er den Wagen in die Garage gefahren und den Motor abgestellt hatte. »Gehen Sie rein und nehmen Sie sich was zu trinken. Ich hole nur schnell die Post.« Dann erhob sich Dan vom Fahrersitz und schlenderte die Zufahrt hinunter zum Briefkasten.
Ich ging in den kleinen Bungalow und wurde sofort von einem Hauch kühler Luft aus der Klimaanlage empfangen. Das erste Zimmer, das ich betrat, war die Küche. Da ich Dan nicht enttäuschen wollte, beschloss ich, sein Angebot anzunehmen und mir etwas zu trinken zu nehmen. Ich ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. Er war frisch bestückt mit zwei vollen Sixpacks Bier, einem ungeöffneten Pack Toastbrot, einem ungeöffneten Orangensaft, einer ungeöffneten Packung Hotdogs und etlichen anderen Dingen. Dan war in Erwartung meines Besuchs einkaufen gewesen. Weiß Gott, was er aß, wenn er alleine war. Ich griff in den Kühlschrank, holte eine Flasche Bier heraus, öffnete sie und warf den Verschluss in den Mülleimer unter dem Spülbecken. In diesem Moment kam Dan herein. »Was dagegen, wenn ich eins mittrinke?«
»Nur zu«, erwiderte ich, drehte mich zum Kühlschrank um und nahm noch eine Flasche heraus. Dann setzten wir uns an die Küchentheke und tranken unser Bier in behaglicher Stille. »Also, Dan, ich glaube, Sie haben ein Päckchen für mich«, sagte ich schließlich zu ihm, als wir unser Bier zur Hälfte getrunken hatten.
»Ja, das habe ich«, entgegnete Dan. »Warten Sie hier.« Er ging in ein anderes Zimmer und kehrte mit einem vertrauten braunen, versiegelten Briefumschlag zurück. »Ich nehme an, Sie möchten eine Weile allein sein, um
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