Der Hof (German Edition)
ich zu ignorieren versuche.
Jean-Claude starrt mich an. Seine dicken Arme ruhen auf dem Tisch. Mich beschleicht das unangenehme Gefühl, dass er mich abschätzt und überlegt, was er mit mir machen soll.
«Meine Frau und ich wurden leider nicht mit Kindern gesegnet», sagt er. «Abgesehen von ihr ist Louis meine Familie. Und ich bin seine. Sobald er Scheiße baut, kommt er früher oder später zu mir, damit ich die Sache wieder in Ordnung bringe. Weil ich sein Bruder bin und so was eben mache. Dieses Mal kam er aber nicht.»
«Sehen Sie …»
«Louis ist tot, und ich brauche nicht die Polizei, um das zu wissen. Wenn er noch am Leben wäre, hätte ich inzwischen von ihm gehört. Und Arnaud hat etwas damit zu tun. Es ist mir egal, wo Louis das letzte Mal gesehen wurde. Der alte Scheißkerl verbirgt irgendwas. Und was ich wissen will, ist, ob Sie mir helfen werden herauszufinden, was mit meinem Bruder passiert ist.»
Trotz seiner Schroffheit spüre ich, wie sehr ihm der Verlust zusetzt. Wie gut ich ihn verstehe, dass er jemanden dafür verantwortlich machen will. «Ich verstehe immer noch nicht, wie ich Ihnen da helfen kann. Ich weiß ja nicht mal, ob ich noch länger hierbleibe.» Es klingt wie eine Ausrede, sogar in meinen Ohren. «Tut mir leid.»
Jean-Claude steht auf und zieht seine Brieftasche hervor. Er wirft einen Geldschein auf den Tisch.
«Sie brauchen nicht zu …»
«Ich habe gesagt, das Essen geht auf mich. Danke für Ihre Zeit.» Seine breiten Schultern versperren kurz die Türöffnung, als er sich von mir abwendet und hinausgeht.
Die Fahrerkabine des Pritschenwagens ist ein Glutofen und stinkt nach heißem Plastik und Öl. Der Wagen lässt sich nur schwerfällig lenken, weil die Sandsäcke auf der Ladefläche ihn wie einen Anker nach unten ziehen. Ich trete das Gaspedal durch, um ihn zu einem bisschen Geschwindigkeit zu treiben. Erst als er anfängt zu vibrieren, lasse ich nach, und das nur zögernd. Der Motor bebt und jammert, als ich die leere Straße entlangfahre.
Ich weiß nicht, warum ich so wütend bin. Oder auf wen. Auf mich, nehme ich an. Ich hätte mich nicht breitschlagen lassen sollen, Jean-Claude zuzuhören. Obwohl ich jetzt wenigstens weiß, warum Arnaud so unbeliebt ist. Ich kann für Jean-Claude echtes Mitgefühl aufbringen, denn natürlich will er jemandem die Schuld an der schrecklichen Sache geben. Und Arnauds Streitlust macht ihn in diesem Fall zu einem geeigneten Ziel. Aber ich verstehe nicht, wieso man ihn für Louis’ Verschwinden verantwortlich machen sollte. Nach dem, was ich über ihn gehört habe, scheint Michels Vater auch nicht bei jedermann beliebt gewesen zu sein. Entweder er hat sich mit der falschen Person angelegt, oder er hat beschlossen, seine Verluste hier zu realisieren und woanders von vorne anzufangen.
Viel Glück dabei, denke ich niedergeschlagen.
Meine Stimmung bessert sich auch nicht, als ich mich dem Hof nähere. Das letzte Mal, als ich in der Stadt war, konnte ich es kaum erwarten, wieder zurückzufahren. Dieses Mal verlangsame ich das Tempo, als das Tor in Sichtweite kommt. Ich lenke den Wagen an den Straßenrand vor dem Tor, und statt auszusteigen und aufzuschließen, sitze ich einfach bei laufendem Motor da. Die Straße verschwindet im Nirgendwo. Aus der Richtung bin ich ursprünglich gekommen. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft denke ich ernsthaft über die Möglichkeit nach, wieder zurückzufahren.
Aber zurück wohin?
Ich steige aus und schließe das Tor auf und schließe wieder zu, sobald ich durchgefahren bin. Dann fahre ich den Pritschenwagen über den mit Schlaglöchern übersäten Weg und parke im Hof. Ich öffne die Ladeklappe und beginne, die Sandsäcke auszuladen und sie einzeln in die Kammer zu schleppen. Es sind ziemlich viele, denn ich will vermeiden, dass mir das Baumaterial ein zweites Mal ausgeht.
Jetzt habe ich allerdings das Gefühl, zu viele gekauft zu haben.
Eine unerklärliche Ungeduld erfasst mich, während ich auslade. Zuerst weiß ich nicht, woher sie kommt, aber dann rieselt etwas Sand auf den Boden, und ich stelle die Verbindung her. Es gibt keinen Grund, wegen meiner Unterhaltung mit Jean-Claude besorgt zu sein. Nicht, nachdem ich erfahren habe, dass Louis während seines Aufenthalts in Lyon verschwunden ist.
Aber ich kann nicht aufhören, über das Stück Stoff in dem Beton nachzudenken.
Mathilde kommt vom Haus herüber, als ich den Pritschenwagen fast vollständig ausgeladen habe. Sie trägt Michel auf der
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