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Der Hof (German Edition)

Der Hof (German Edition)

Titel: Der Hof (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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darüber noch nicht nachgedacht, aber jetzt frage ich mich, ob ein Zusammenhang zwischen dem unvollendeten Haus und Michels abwesendem Vater besteht. Das würde Mathildes merkwürdiges Verhalten vorhin erklären und ebenso Gretchens Reaktion unten am See. Sie hat mir erzählt, Michels Vater hätte sie alle betrogen und hängenlassen.
    Vielleicht traf das in mehr als nur einer Hinsicht zu.
    Ich lasse das Kondom in einer Ecke der Kammer liegen, klemme mir die Krücke unter den Arm und steige das Gerüst hoch. Die Leitersprossen sind heiß genug, dass meine Hände davon schmerzen, und auf der oberen Plattform ist es wie in einem Brennofen. Es gibt keinen Schatten, und ich bin schon jetzt dankbar für die langen Ärmel des Overalls. Mir kommen wieder Zweifel, als ich die zerbröckelnde Wand untersuche. Ich nehme den Vorschlaghammer und den Meißel zur Hand, bevor ich darüber nachdenken kann, was ich da tue.
    «Also dann», mache ich mir Mut und schwinge den Hammer.
    Es hat etwas Zenartiges, den alten Mörtel aus den Fugen zu hacken. Die Arbeit ist anstrengend, und die ständige Wiederholung derselben Bewegung ist hypnotisierend. Jeder Schlag lässt einen klaren Ton erklingen. Wenn man den richtigen Rhythmus findet, scheint der Meißel zu singen und schickt jeden weiteren Ton in die Luft, ehe der vorhergehende verstummt ist.
    Es ist sogar richtig entspannend.
    Ich muss innehalten und durchatmen, aber schon bald finde ich ein Tempo, das ich bewältigen kann. Ich umgehe das Problem mit meinem verletzten Fuß, indem ich ein paar von den losen Ziegeln übereinanderstaple und mein Knie darauf ablege. Manchmal setze ich mich auch drauf und arbeite so. Der Verband wird schmutzig dabei, aber das kann ich nicht ändern.
    Eigentlich will ich an meinem ersten Tag nicht so lange arbeiten, aber ich verliere jedes Zeitgefühl. Erst als ich meine Arbeit unterbreche, um einen Mörtelkrümel aus dem Auge zu blinzeln, bemerke ich, wie tief die Sonne schon steht. Der Nachmittag ist unbemerkt verstrichen.
    Nun, wo ich pausiere, beginnen verschiedene Beschwerden sich bemerkbar zu machen. Meine Arme und Schultern schmerzen, und ich habe eine beeindruckende Ansammlung von Blasen an der Hand, mit der ich den Hammer führe. Außerdem habe ich auf dem Handrücken einen bunten Bluterguss, das Ergebnis eines Schlags, bei dem ich den Meißel verfehlt habe.
    Das macht mir nichts aus. Ehrliche Arbeit, ehrlicher Schmerz. Aber ich muss meine Uhr auch erwischt haben, denn über das Ziffernblatt verläuft ein Riss. Der Anblick ist für meine Stimmung wie eine Ohrfeige. Sie geht noch, aber ich nehme sie trotzdem ab und stecke sie in die Tasche. Die Uhr ist eine unangenehme Erinnerung an Dinge, die ich lieber vergessen würde. Außerdem brauche ich die Uhrzeit nicht zu wissen, solange ich hier bin. Der Hof gehorcht seinem eigenen Rhythmus. Ich nehme die Baseballkappe von meinem verschwitzten Kopf und betrachte, was ich bisher erreicht habe. Der frisch ausgehackte Mörtel ist heller als die älteren Teile, aber der Bereich ist entmutigend klein, verglichen mit der Größe der Wand, die mir noch bleibt. Immerhin habe ich einen Anfang gemacht. Das fühlt sich erstaunlich gut an.
    Ich lasse den Hammer und den Meißel auf der Plattform liegen und klettere langsam die Leiter hinunter. Die immer noch heißen Sprossen schmerzen besonders an den Blasen, und jeder Schritt kostet mich Überwindung. Für ein Bier könnte ich morden, denke ich und humple in den Lagerraum, um meine Sachen zu holen. Eine Flasche – bernsteinfarben und mit Kondenswasser beschlagen. Ich kann es fast schmecken.
    Von Durst gequält, trete ich wieder in den Hof. Ich bemerke Mathilde nicht, bis ich höre, wie Geschirr zu Bruch geht. Ich drehe mich um und sehe sie mit Michel auf dem Arm in der Tür stehen. Zu ihren Füßen liegt eine zerbrochene Schüssel mit kaputten Eiern. Die hellgelben Dotter verschmieren die Steine.
    Sie starrt mich mit bleichem Gesicht an. «Tut mir leid. Habe ich dich erschreckt?», frage ich.
    «Nein, ich … Ich habe einfach nicht mehr daran gedacht, dass du da bist.»
    Ihr Blick gleitet zu dem roten Overall, den ich anhabe, und ich glaube, ich verstehe, was los ist. «Da oben ist kein Schatten, darum habe ich mir gedacht, ich ziehe den lieber an. Ich hoffe, das ist in Ordnung?»
    «Natürlich!», sagt sie zu schnell.
    Ich wollte sie nicht erschrecken, aber ich wusste ja nicht, dass ich sie im Overall erschrecken würde. Ihre Reaktion bestätigt meine Vermutung über

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