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Der Horizont: Roman (German Edition)

Der Horizont: Roman (German Edition)

Titel: Der Horizont: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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Reife. Doch sie schienen unempfänglich für solche Komplimente, als sei das ganze eine Selbstverständlichkeit. Der Junge hatte die Schultern gezuckt und sich wieder in sein Lehrbuch vertieft, und das Mädchen hatte Bosmans schüchtern angelächelt.
    Zwischen den beiden Fenstern des Salons hing ein gerahmtes Photo: Professor Ferne und seine Frau, sehr jung, lächelnd, doch im Blick eine gewisse Würde, und in ihre Anwaltsroben gekleidet. An den paar Abenden, die er mit Margaret in der Wohnung verbracht hatte, warteten sie auf dem Lederkanapee, bis der Professor und seine Frau heimkamen. Sie hatte die Kinder zu Bett gebracht und ihnen erlaubt, noch eine Stunde zu lesen. Eine Lampe mit rotem Schirm, die auf einem runden Tischchen stand, verströmte warmes, beruhigendes Licht, das weite Bereiche im Halbdunkel ließ. Bosmans schaute zu den Fenstern und malte sich aus, wie der Herr Professor und die Frau Anwältin an ihren Schreibtischen saßen, über ihren jeweiligen Akten. Vielleicht blieben die Kinder an schulfreien Tagen in ihrer Nähe, auf dem Kanapee, ganz in ihre Bücher versunken, und so gingen die Samstagnachmittage dahin, und nichts konnte die Stille in dieser wissbegierigen Familie stören.
    Diese Stille und diese Ruhe, ja, es war Bosmans, als genieße er sie auf unrechtmäßige Weise zusammen mit Margaret. Er stand auf, um aus dem Fenster zu schauen, und er fragte sich, ob der Park um das Observatorium da unten nicht in einer fremden Stadt lag, in der sie, Margaret und er, gerade erst angekommen waren.
    Beim ersten Mal hatte ihn heftige Furcht ergriffen, als er gegen Mitternacht die Wohnungstür aufgehen und sich wieder schließen hörte und im Vorzimmer die Stimmen von Professor Ferne und seiner Frau erklangen. Er starrte unverwandt auf Margaret und spürte, dass seine Panik auf sie übergreifen würde, wenn er sich nicht zusammenriss. Er stand auf und lief zur Salontür, kurz bevor die Fernes eintraten. Er streckte ihnen die Hand entgegen, als würde er ins kalte Wasser springen, und war erst vollkommen beruhigt, als sie ihm, einer nach dem andern, diese Hand gedrückt hatten.
    Er stotterte:
    »Jean Bosmans.«
    Sie waren so ernst wie ihre Kinder. Und wie ihre Kinder schienen sie kein bisschen überrascht, schon gar nicht über Bosmans’ Anwesenheit. Hatten sie überhaupt seinen Namen gehört? Professor Ferne bewegte sich in höheren, abstrakten Sphären, wo man von den Trivialitäten des alltäglichen Lebens nichts weiß. Und seine Frau ganz genauso, mit ihrem kalten Blick, dem kurzen Haar, dieser Schroffheit im Benehmen und in der Art zu sprechen. Doch was Bosmans bei dieser ersten Begegnung aus der Fassung gebracht hatte, fand er mit der Zeit so beruhigend, dass er glaubte, Beziehungen zu diesen beiden Menschen könnten sich wohltuend auf ihn auswirken.
    »Hat André brav Mathematik gelernt?«
    »Ja, Monsieur.«
    »Ich habe gesehen, wie er in seinem Buch Anmerkungen an den Rand schrieb«, stotterte Bosmans … »Das ist klasse, in seinem Alter.«
    Der Professor und seine Frau starrten ihn an. Vielleicht hatte sie das Wort »klasse« schockiert?
    »André hat Mathematik immer schon gemocht«, sagte der Professor mit seiner sanften Stimme, als fände er daran nichts außergewöhnlich oder »klasse«.
    Die Anwältin war einen Schritt auf Bosmans und Margaret zugekommen.
    »Guten Abend«, sagte sie mit einem leichten Nicken des Kopfes und einem distanzierten Lächeln.
    Sie verließ den Salon. Der Professor sagte ihnen seinerseits Guten Abend, im gleichen unbeteiligten Ton wie seine Frau, doch er drückte ihnen beiden die Hand, bevor auch er sich durch die Tür ganz hinten zurückzog.
    »Es ist komisch«, sagte Margaret, als sie allein waren. »Wir könnten die ganze Nacht in diesem Salon bleiben … Das wäre ihnen vollkommen gleichgültig … Sie schweben ein bisschen in den Wolken …«
    Sie machten eher der Eindruck, als wollten sie ihre Zeit nicht mit kleinen Belanglosigkeiten vergeuden, und vor allem vermieden sie leeres Gerede. Bosmans stellte sich vor, dass in dem hinteren Raum, der als Esszimmer diente, sogar die Mahlzeiten arbeitsam verliefen. Die Kinder wurden in Mathematik oder Philosophie abgefragt, und sie antworteten klar und deutlich, mit der Reife musikalischer Wunderkinder. Der Herr Professor und die Frau Anwältin, dachte Bosmans, hatten sich bestimmt auf den Bänken der Universität kennengelernt. Darum hatten sie auch in ihrem Verhältnis etwas leicht Ruppiges bewahrt. Was sie

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