Der Hügel des Windes
gibt’s denn da zu kapieren?Sind eine Handvoll Steine in einem stinkenden, mückenverseuchten Sumpf etwa wichtiger als eine schöne trockengelegte und fruchtbare Ebene, wo eines Tages Obstbäume und Weinreben wachsen, die vielen Menschen zu essen geben? Was kann man denn bei Ausgrabungen essen, Terrakotta-Ragout? Dieser Plunder interessiert doch nur Leute, die den Bauch voll haben und dazu eine dicke Erbschaft für ihre Kinder und Kindeskinder.«
Alberto wollte und konnte ihm darauf nicht antworten, während der kleine Michelangelo den Vater verwirrt und etwas erschrocken ansah, um ihn dann mit seinem Guckäuglein-Spiel zum Lachen zu bringen, indem er abwechselnd das eine und das andere Auge zukniff.
Auf dem gesamten Küstenstreifen ober- und unterhalb der Punta Alice gab es nicht die Spur eines Baumes, und der Mai war in diesem Jahr unerträglich heiß. Die Eukalyptuspflänzchen, die Arturo im Vorjahr gesetzt hatte, waren noch schmächtig. Um der ermattenden Hitze zu entgehen und die Abbauarbeiten eines niedrigen Hügels zu beschleunigen, den Paolo Orsi »die Riesenzitze« nannte, wurde manchmal auch nachts gearbeitet, im Licht des Vollmondes, der Sterne und im wechselnden Hell-Dunkel des Leuchtturms. Das Meer schwappte wenige hundert Meter entfernt unsichtbar und träge ans Ufer, Arturo hörte seine frische Stimme zwischen dem Knirschen der Spaten und dem Keuchen der Kameraden.
Paolo Orsi wandelte wie ein Geist zwischen den Ruinen umher, groß und still. Dann und wann zog er sich in seine unter freiem Himmel improvisierte Schreibstube zurück, die teilweise von einem Metallzaun umgrenzt war, setzte sichauf einen Säulenstumpf und notierte die Inventarliste der Funde in sein Notizbuch. Zwischendurch sprach er laut vor sich hin: »Einige Nägel und ein Pfeil mit Schaft. Auf einer Fläche von etwas mehr als einem Quadratmeter fanden sich einundzwanzig Bronzemünzen, sehr abgenutzt ... hauchdünne Goldplättchen ... ein komplett erhaltener Stirnziegel mit Medusen-Maskaron. Prunkstück des Tages war die goldene Apollonfigurine ...«
Eine etwas größere Statue aus Silber wurde am 14. Mai von Arturo etwa zweihundert Meter vom Tempel entfernt gefunden. Kurz zuvor war ein Unwetter niedergegangen, das das ganze Ausgrabungsgelände in eine Riesenpfütze verwandelt hatte. Während die anderen Arbeiter nach Hause gingen, hatte Arturo im Schlamm die Statue glitzern sehen. Er hätte sie einfach mitnehmen können, wie es viele taten, wenn es um Gold- oder Silberfunde ging. Doch er zögerte keine Sekunde. Er rief den Professor und übergab ihm das schlammige Ding.
»Das ist ein wertvolles Götzenbild, welches Apollon darstellt, das schönste Stück, das wir bisher in den Sandmassen gefunden haben. Sie sind ein ehrlicher Mann«, sagte Paolo Orsi zu ihm. Er war sichtlich zufrieden, seine Augen blitzten hinter den Brillengläsern, während er die Statue in den Händen drehte und sie mit einem Taschentuch säuberte. Er wirkte wie ein Kind, das ein lange vermisstes Spielzeug wiedergefunden hatte. Dann bot er ihm eine großzügige Summe Geld als Anerkennung an, siebzig Lire, das entsprach dem Lohn einer ganzen Woche.
Arturo wurde verlegen, er wollte das Geld nicht annehmen und sagte immer wieder: »Aber ich habe doch nur meine Pflicht getan.«
Der Professor ließ sich nicht beirren: »Sie verdienen eine Belohnung. Das ist noch wenig, glauben Sie mir, für den Dienst, den Sie uns erwiesen haben.«
»Ich kann das nicht annehmen, ich ...«
»Nun stellen Sie sich nicht so an, Ihre Familie kann es sicherlich brauchen«, beharrte der Professor und steckte ihm das Geld in die Hosentasche. »Nehmen Sie es für Ihre Kinder, wenn Sie welche haben.«
»Ich habe einen Dreijährigen, und meine Frau ist wieder schwanger, Mitte Juni soll es zur Welt kommen.«
»Sehen Sie? Heute ist Ihr Glückstag. Alles Gute im Voraus. Bis morgen!«
Es war das erste Mal, dass die beiden miteinander sprachen. An den Tagen danach grüßten sie sich und wechselten ein paar Worte über den Fortgang der Arbeiten. Arturo war so beeindruckt von Anstand und Großzügigkeit des Professors, dass er eines Morgens so tat, als fände er seine Silbermünze in einem Erdhügel, und sie ihm ohne Bedauern überreichte. Sie gehörte ja eh nicht mir, dachte er, und wenn sie wirklich Glück bringt, tut sie das auch von ferne.
Paolo Orsi dankte ihm mit der üblichen Begeisterung, bewahrte die Münze in seinem Depot auf und kehrte zur Arbeit zurück. Er war unermüdlich, hielt
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