Der Hügel des Windes
selten inne. Manchmal, wenn er sich den Schweiß zwischen den spärlichen grauen Haaren trocknete, die an seinem Kopf klebten, und sich mit dem Hut Luft zufächelte, betrachtete er gedankenverloren den roten Hügel, streichelte mit dem Blick sanft seine Konturen, schloss kurz die Augen, vielleicht um den Duft einzuatmen, den der Wind bis zu ihm heruntertrug.
Arturo hätte ihm gern gesagt, dass der Rossarco seiner Familie gehörte und dass der Mann, der ihn einst mit angelegtemGewehr aufgehalten hatte, sein Vater Alberto gewesen war. Er machte schon den Mund auf, dann schloss er ihn wieder, sog den ihm wohlbekannten Duft ein und spatete weiter den Boden um.
Vom 19. Mai an sahen sie sich nicht mehr. Die Ausgrabungen sollten ohne Professor Orsi bis zum 6. Juni 1924 andauern.
Nach Hause zurückgekehrt, gab Arturo die Belohnung seiner Frau. »Leg das zur Seite für unsere Kinder«, sagte er und gab zu, dass sein Vater recht gehabt hatte. Der Professor war ein gescheiter und anständiger Mann. Über die Notwendigkeit der Ausgrabungen hingegen blieb er bei seiner Meinung: »Der sucht unter der Erde nach Plunder, der seit Jahrtausenden tot ist, mich interessiert, was über der Erde wächst, und die Menschen, die jetzt am Leben sind, hier und heute.« Und er streichelte Linas runden Bauch, prall gefüllt mit Leben.
6
Die ganze Schwangerschaft über war sie umsorgt worden wie eine Königin: Der Schwiegervater verbot ihr, den Rossarco zu betreten, bürdete trotz seines Alters alle Mühen der Feldarbeit sich selbst und seinem Sohn auf, sobald dieser von den Entwässerungsarbeiten zurückkam; die Schwiegermutter ließ sie nicht in die Nähe der schmutzigen Wäsche und des dreckigen Geschirrs und bereitete ihr all ihre Lieblingsspeisen mit Kichererbsen, grünen Bohnen, Erbsen und Saubohnen zu, die Lina gierig verschlang, nachdem sie sich Zwiebeln und Peperoni darübergeschnitten hatte; ihr Mann brachte aus Marina frisch gefangene Sardinen und Gelbstriemen mit und Frühobst, das schon hie und da reifte, Mispeln, Kirschen, Pfirsiche, Feigen, Maul- und Brombeeren. Selbst der kleine Michelangelo wartete nicht, bis die Mutter ihn schalt, ihm einen Klaps auf den Hinterkopf versetzte oder ihn in die Wange kniff, er gehorchte ihr sofort und hatte sogar spontan aufgehört, an ihrem Busen zu nuckeln, wie er es immer noch beim Einschlafen tat: »Die neue Milch ist für mein Brüderchen«, hatte er eines Abends mit gerunzelten Brauen gesagt, um seinem Entschluss Gewicht zu verleihen.
Lina genoss den langen, neunmonatigen Urlaub mit ein paar Gewissensbissen und in bislang ungekannter Trägheit. Sie aß mit doppeltem Appetit, legte sich nach jeder Mahlzeit hin, schloss die Augen und wartete auf die Liebkosungenihres Sohnes und ihres Mannes, der samstags mit dem Brotbeutel voll Leckereien zurückkam, nur für sie und das Kleine in ihrem Schoß. Sie war fest und rund geworden wie ein Tonkrug.
In der letzten Woche stand sie in Erwartung der Wehen nur noch auf, um den Nachttopf zu benutzen. Am Morgen des 13. Juni weckte sie den Ehemann: »Fühl mal, meine Beine sind nass, die Fruchtblase ist geplatzt«, sagte sie alarmiert. Es war der große Festtag zu Ehren des heiligen Antonius von Padua. Arturo sprang aus dem Bett, zog sich blitzschnell an und rannte los, um die Mammana zu holen.
Am späten Vormittag, während die Prozession durch die Gasse vor dem Hause Arcuri zog und die Musikkapelle hinter der Heiligenstatue einen fröhlichen Marsch spielte, gebar Lina ein fast vier Kilo schweres Kind. Keinen Jungen, wie der kleine Michelangelo gehofft hatte, sondern ein Mädchen, fast gänzlich in einen klebrigen, durchsichtigen Schleier gehüllt, den die Schwiegermutter, als sie die frohe Nachricht weiterverbreitete, »das Glückshemdchen« nannte.
Arturo feuerte zwei Gewehrschüsse in den Feiertagshimmel, und dank der Prozession erfuhr das gesamte Dorf ohne Verzug von der zweiten Geburt im Hause Arcuri. Sofort wurden ein Tisch, Flaschen, Gläser und reichlich Mostaccioli-Kekse auf die Gasse getragen. Die Leute am Ende der Prozession blieben stehen, um mit einem süßen Myrtenlikör oder einem guten Glas Wein vom Rossarco auf die Gesundheit des Neugeborenen anzustoßen. Alle sagten, dass es am Namen der Kleinen keinen Zweifel geben könne: Antonia, so hatte sie selbst es bestimmt, sonst wäre sie doch nicht genau an diesem Festtag auf die Welt gekommen, während derProzession des heiligen Antonius. Und Familie Arcuri, die sich der Tradition halber
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