Der Hügel des Windes
Ehemann sie und kniff sie vor aller Augen liebevoll in die Wange, begleitet von einem einvernehmlichen Blick, mit dem er die nachzuholenden Liebkosungen auf die kommende Nacht verschob.
Dem Sohn entging das nicht, er war kein Kind mehr, und er freute sich: Endlich hatte er einen Vater aus Fleisch und Blut, der nach Schweiß und Rossarco roch, und keine aseptische Ansichtskarte, die bedauernd herumgezeigt wurde.
Abends brachte Arturo ihm das Gitarrenspiel bei, und Michelangelo, der auch in der Schule Musikunterricht hatte, lernte mit großer Begeisterung. Für gewöhnlich kam auch Ninabella hinzu, die besser singen konnte als ihr Bruder: »Sing nur, mein Herz, fern von dir vergeht nicht die Zeit, wild schlägt im Innern dein ewiger Schmerz. Sing nur, mein Herz.« Das war einer der vielen Verse, die Arturo während seiner Verbannung auf Ventotene gedichtet hatte, und Ninabella sang ihn mit warmer, verliebter Stimme und verzücktem Blick.
Mutter und Großmutter heizten das Feuer an oder kochten oder flickten und strickten, hüteten sich aber aus Aberglaube, mit Worten das Glück auszusprechen, das ihnen ins Gesicht geschrieben stand.
Nonno Alberto hielt die Augen geschlossen, vielleicht schlief er, vielleicht genoss er die Musik und jagte seinenGespenstern nach. Und er fragte den Enkel mindestens dreimal am Tag: »Wann kommt denn nun unser Professore?« Er konnte es nicht erwarten, Paolo Orsi zu treffen, ihm die Münzen zu verkaufen und vor allem Michelangelo zu unterstützen, der die Namen der zwei seligen Söhne trug, wenngleich sich seit Arturos Rückkehr die wirtschaftliche Lage der Familie von Monat zu Monat verbesserte.
»Der Professore kommt bald. Sei nur ganz ruhig, Nonno. Er hält Wort«, versicherte ihm der Enkel wieder und wieder und hoffte, dass dieser letzte, größte Wunsch seines Großvaters so bald wie möglich in Erfüllung ginge.
Eines Morgens im Geschichtsunterricht erhielt Michelangelo Arcuri von seinem Lehrer die Erlaubnis, die Schule unverzüglich zu verlassen, auf Bitten seiner Familie, die einen Onkel geschickt hatte, um ihn abzuholen.
Vor der Aula wartete Zio Gigino, der ihm sofort die Unglücksbotschaft überbrachte: »Michè, ich soll dich nach Hause bringen, dein Großvater liegt im Sterben. Der Signora von der Pension habe ich schon Bescheid gesagt. Wir müssen uns beeilen, sonst verpassen wir die Drahtseilbahn und den Zug.«
Michelangelo weinte nicht, er durfte nicht, hatte er sich doch selbst versprochen, aus keinem Grund der Welt zu weinen, obwohl er spürte, wie ein Erdbeben seine Seele erschütterte. Der Nonno ist schon tot, dachte er wieder und wieder, Zio Gigino verschweigt mir die Wahrheit, damit ich nicht verzweifle, oder er lebt noch, vielleicht erholt er sich, der Nonno, immerhin stand er schon einmal mit einem Fuß im Grab und zog ihn wieder heraus.
Ihre Reise war schneller und kostspieliger als gewöhnlich,sie stiegen am Bahnhof von Crotone aus, nahmen von dort den Postbus bis zur Abzweigung Spillace und legten den restlichen Weg zu Fuß zurück, fast ohne ein Wort zu wechseln, nur ein paar erschöpfte Blicke. Bevor sie das Dorf betraten, drei Stunden nach ihrem Aufbruch in Catanzaro, rückte Zio Gigino mit der Wahrheit heraus. »Dein Großvater ist gestern gestorben, während des Mittagsschlafes. Es war ein schöner Tod, er hat nichts gemerkt.«
Die Gasse vor dem Haus war voller Leute, die sofort zur Seite wichen, um Michelangelo unter klagendem Gemurmel durchzulassen. Als Arturo den Sohn sah, ging er ihm entgegen und drückte ihn fest, und die anderen Familienmitglieder schlossen sich ihnen unter Schluchzen und Schreien an. Dann lösten sie sich von der Gruppe, und Arturo führte ihn zum Sarg des Großvaters. »Gib ihm einen letzten Kuss, Michè. Der Großvater hat immer nach dir gefragt, in diesen letzten Tagen, und er hat mir aufgetragen, dich weiter zur Schule zu schicken. Von dir und von unserem Hügel, davon sprach er jeden Tag.«
Michelangelo drückte einen Kuss auf die eisige Stirn des Großvaters. Er fand nicht den Mut, ihn lange anzusehen, und doch bemerkte er die Ruhe, die von seinem Gesicht ausging. Vielleicht war er gestorben, während er etwas Schönes träumte, vielleicht von seiner Familie, dem Rossarco, den alten Münzen oder der weißen Schwalbe.
Das Stimmengewirr, das beim Eintreffen des Jungen verstummt war, erhob sich wieder, lauter als zuvor. Die Mutter und Ninabella nutzten es, um ihren Schmerz erneut herauszuschreien. Die Großmutter steckte
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