Der Hueter der Koenigin - Historischer Roman
Wittiges schlug ein Krieger das Kreuzzeichen, ein anderer fluchte, und aus seiner Stimme klang Furcht. Eine heillose Unruhe, beinahe Panik brach aus, die Marschordnung löste sich vollständig auf.
Der richtige Zeitpunkt für einen Angriff, dachte Wittiges. Mit einer Hand nahm er seine kanternde Stute hart an die Kandare, mit der anderen lockerte er den Schwertgriff, während er mit halbem Ohr auf der Lärm lauschte, der einem Angriff vorausgehen musste: das Kriegsgeschrei der Gegner. Gleichzeitig drehte er sich im Sattel nach hinten und brüllte einige Befehle. Aus den Augenwinkeln bemerkte er Venantius, der mit angespannter Miene sein Pferd zügelte. Der Dichter hatte sich noch nie mitten in einem Gefecht befunden, fiel Wittiges ein. Nun sollte er also seine Feuertaufe erhalten. Venantius hob eine Hand, deutete mit allen Anzeichen von Überraschung nach vorn, das machte Wittiges stutzig. Er wandte sich wieder der Straße zu.
Der Reiter war verschwunden, der Adler zog seine Kreise höher und höher und strich mit einem letzten schrillen Schrei ab.
Wittiges zauderte, aber dann trabte er an, um sich Gewissheit zu verschaffen, und hinter ihm setzten sich die anderen zögernd in Bewegung. Als sie die Höhe erreicht hatten, zeigte sich niemand vor ihnen auf der Straße. Im Staub waren nur ein paar völlig undeutliche Hufabdrücke zu erkennen.
In der folgenden Nacht kampierten sie im Wald, weil es in dieser Gegend nicht einmal einen Köhlerweiler gab, wo sie sich hätten einquartieren können, und es wurde immer deutlicher, warum sich hier niemand ansiedelte: Der Wald war tückisch, ein Auwald mit verfilztem Gestrüpp, umgestürzten Baumriesen, halb überflutetem Grund. Es stank nach vermoderndem Holz, und die Mücken ließen kaum jemanden ruhig schlafen. Für die meisten war es die Hölle. Zudem schlug das Wetter um, ein Gewitter entlud sich über ihnen und ertränkte sie beinahe in sintflutartigem Regen. Wittiges, wieder versunken in Teilnahmslosigkeit, schenkte den Unbequemlichkeiten keine Beachtung.
Am übernächsten Tag stieß eine awarische Handelsdelegation zu ihnen. Sie waren von Augsburg den Lech herauf gekommen und baten, sich ihnen anschließen zu dürfen. Sie hatten die Absicht, in den Nordwesten des fränkischen Hoheitsgebiets zu reisen, um nach neuen Absatzmöglichkeiten für ihre Waren Ausschau zu halten.
Venantius redete mit ihnen und übermittelte Wittiges ihre Bitte. Es war eine kleine Gruppe von drei wagemutigen Händlern, einigen Knechten und einem knappen Dutzend Kriegern als Geleitschutz. Die Waren transportierten sie auf Pferdekarren. Wittiges beäugte argwöhnisch die Krieger. Allesamt waren sie mit Panzerhemden ausgestattet, über denen sie einen gefransten Halsschutz aus einem dichten Gewebe trugen. Außerdem waren sie voll bewaffnet, das hieß zusätzlich zu Schwertern und Dolchen mit Bogen und Lanzen.
„Frag sie nach ihren Waren und ihrem Reiseziel“, knurrte Wittiges. Von den friedlichen Absichten der Awaren war er keineswegs überzeugt. Dagegen hatte er noch das Bild des unheimlichen Reiters vor Augen, und wie von ungefähr fiel sein Blick auf einen der Krieger, der sich abseits hielt und ihn ruhig, beinahe abschätzend musterte. Der Mann führte zwei Pferde am Halfter mit sich, die Wittiges ...
„Ich erkenne ihn wieder“, raunte ihm einer seiner Franken zu. „Das ist er.“
„Wer?“
„Die Geisel, die uns in Boiotro entwischt ist.“ Unauffällig, aber leider nicht unauffällig genug deutete der Franke auf den Awaren, der Wittiges’ Aufmerksamkeit erregt hatte.
Gelassen setzte sich der Mann in Bewegung, jetzt waren die Begleitpferde besser zu erkennen. Blaue Pferde .
„ Ich bin Samur, Sohn des Kaghans“, erklärte der Aware selbstbewusst. Er sprach Fränkisch mit schwerem Akzent und tiefer, gutturaler Stimme. „Und diese Pferde gehören dir.“
Es waren die beiden blauen Pferde , die Baian Wittiges zum Abschied geschenkt hatte. Jetzt kamen sie also zu ihm zurück. Was mochte das bedeuten?
„Du bist uns nachgeritten, um mir die Pferde zu überbringen?“, fragte Wittiges argwöhnisch. Seine Krieger hatten inzwischen einen Ring um die Handelsgruppe gebildet. Die Franken waren zwar in der Überzahl, aber bei einem Gefecht hätten sie sicher beträchtliche Verluste erlitten, da etliche von ihnen immer noch vom Durchfall geschwächt waren. Wittiges wollte kein Gefecht, und dennoch reizte es ihn loszuschlagen. In ihm brodelte eine seltsame Wut. Er hatte geglaubt, die
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