Der Hypnosearzt
Strich. Der Ausgangspunkt war das linke Schultergelenk. Er zog in einer halbmondförmigen Kurve eine Linie knapp über den Brustwarzen zur anderen Schulter.
»Hast du das gespürt? Aber natürlich hast du es gespürt …« Stefan hielt den Bleistift vor Lindners Augen. »Es war dieser Silberstift, Thomas. Sieh ihn dir an … Nun komm, versuch es wenigstens. Ist es schwierig? Brennen deine Augen? Sind die Lider schwer? – O ja, das sind sie … so schwer, so warm und schwer …«
Bergmann hatte die Stimme zu dem zärtlich eindringlichen und ruhigen Flüstern gesenkt, mit dem man Kinder anspricht. Die Kante seiner Hand tastete leicht über Thomas' Brustmuskeln. Er hatte das Gefühl, als hätte ihr Tonus sich geändert, als seien sie entspannter als zuvor.
»Spürst du den Strich, Thomas? O ja, du spürst ihn. Er tut gut, nicht wahr? Sieh mal, ich mach das jetzt wieder …«
Stefans Blick wanderte über das matt erleuchtete, schmerzgepeinigte Gesicht. Es schien glatter als zuvor, ja, auch Lindners Miene hatte sich entspannt.
Stefan brauchte die Worte nicht zu suchen; jene seltsame, geheimnisvolle, magische Verbindung hatte sich eingestellt, die die Voraussetzung seiner Arbeit, war, eine Intimität des Kontaktes, die Bergmann nur in solchen Augenblicken kannte, am Bett eines Kranken – oder in der Liebe …
»Unterhalb des Striches, Thomas«, flüsterte Stefan, »wird es jetzt schwer und angenehm, alles fließt dort – bis in deine Schultern, in deine Arme, in die Muskeln an Schultern und Armen … spürst du, wie sie leicht werden, leicht wie der Wind, der über das Meer weht? Spürst du es, Thomas? Nicht wahr, so ist es. Du brauchst mir nichts zu sagen, du spürst es. All deine Gefäße sind ruhig und stark. So schön ist es, das zu spüren. Die Adern, die Arterien sind ruhig, so ruhig. Das Blut strömt. Es ist warm, herrlich warm und beruhigend, und es fließt ganz still, fließt überallhin, bis in die letzte kleine Ader, bis in deine Haut. Denn die Haut, die spürst du jetzt. Sie ist es, die das Leben aufnimmt. Und die Haut ist es auch, die dich mit dem Leben verbindet. Mit Leben und Glück, Thomas … Spürst du sie, spürst du, wie leicht und frei sie ist, wie frei auch dein Kopf wird? Frei und leicht, Thomas, frei von jedem Schmerz. Was ist schon Schmerz? Nichts … Er geht dahin, er ist fort, so schnell, so leicht wie der Wind.«
Bergmann erhob sich langsam. Er steckte den silbernen Drehbleistift wieder in die Brusttasche seiner Lederjacke zurück. Er betrachtete Lindners Gesicht. Es hatte gewirkt. Und es war noch einfacher gewesen, als er erwartet hatte. Thomas lag da, das Gesicht ruhig, ohne eine Spur von Schmerzen. Nun öffneten sich seine Augen zu dem unbeweglichen Blick eines Menschen, der sich in Trance befindet.
»Thomas?«
Bergmann sprach den Namen ganz leise. Er hatte bei der Induktion auf eine tiefere Stufe verzichtet; Lindners Gehirn war beherrscht von den Alpha-Wellen eines somnambulen Zustands, eines nicht allzu festen Schlafes also, der es Bergmann einfach machte, ihn anzusprechen und von ihm Reaktionen zu erhalten.
»Thomas, du wirst jetzt tief schlafen – sehr lange. Bis siebzehn Uhr … Genau bis siebzehn Uhr. Hörst du mich?«
»Ja.« Das kleine Wort kam klar, deutlich und völlig ruhig.
»Sehr gut. Du wirst dann aufstehen, auf die Terrasse gehen und dich so frisch und fröhlich und gesund fühlen wie ein junger Hund …«
»Ja.«
»Wie wirst du dich fühlen?«
Lindners Augen wirkten nun klarer, die Gesichtsmuskulatur begann zu arbeiten, aber da waren keine Verspannung, kein Schmerz zu erkennen. Die Falten hatten sich geglättet, ein freudiges, beinahe jungenhaftes Lächeln zeigte sich. »Frisch und fröhlich und gesund wie ein junger Hund …« wiederholte der lächelnde Lindner.
Stefan löschte das Licht und verließ den Raum.
»In die Höhle? Mit dir auf den Col und in der Höhle wohnen? Wie stellst du dir das vor?«
»Es mu-mu-muß sein.« Fabiens Kiefer zitterte, selbst die Halsmuskeln verspannten sich in dem krampfhaften Versuch, die Worte hervorzustoßen, die Régine überzeugen sollten. »Hi-ier … ist es zu-zu-zu …«
»Gefährlich, willst du sagen?«
Er nickte heftig.
Sie saßen am Strand auf einem ausgerissenen, vom Meer glattpolierten weißen Baumstamm. Die Brandung brach sich langsam in langen, weiten Bögen, so als müsse das Meer Atem holen nach dem Sturm der Nacht. Überall am Strand, wo man hinsah, glänzte feucht und salzverkrustet der Tang.
Régine
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