Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
erinnert hatte, schloss jede Entschuldigung aus. Für ihn war alles verjährt. Wen kümmerte noch der Tod meiner Schwester? Niemanden, nur mich. Abbé de Villers interessierte allein die Zukunft. Der Vergangenheit hatte er sich entledigt wie eines verschlissenen Gewands. Er sah in mir nur einen obskuren Arzt oder Hypnotiseur, der seiner Marie-Thérèse Avancen machte, indem er ihre Hoffnungen auf gesunde Augen ausnutzte.
Meine Hände kamen meinem Willen zuvor. Schon fühlte ich des Abbés knorpeligen Kehlkopf, seine Sehnen, die verhärteten Nackenmuskeln. Wie unter Wasser aufquellende Gallerte brachen seine Augäpfel hervor, und unter meinem brennenden Blick färbte sich sein Gesicht erst rot, dann blau. Ich aber dachte nur an Juliette: Ihre letzten Blicke, in denen soviel Anklage und Leiden gelegen hatte, setzte nie gekannten Hass frei und verwandelte meine Hände in unbarmherzige Würgeisen.
»Zum Teufel, was ist in dich gefahren? Bist du verrückt? Du bringst ihn um!« Ich hörte Philipps Stimme wie hinter einer Nebelwand und sah, wie er sich in einen Dreizehnjährigen zurückverwandelte. Damals hatte das Drama um die „kleine Cocquéreau“ das Gut in Atem gehalten. genauso wie Jahre zuvor das Begräbnis der niedlichen „Mouche“, Philippes und Ludwigs rauflustiger Spielgefährtin. Jemand riss an mir, doch meine Erinnerung war stärker als Philipps Geschrei. Mir fiel ein, dass man die kleine Mouche - als Frucht der Haushälterin des Abbés - auf dem Gutsfriedhof beigesetzt hatte. Auch ich hatte damals geglaubt, ihr früher Tod sei das sichere Zeichen dafür, dass Gott seinem Diener den sündigen Verstoß gegen das Gelübde der Enthaltsamkeit nicht verziehen hatte. Dieser verfluchte Priester hatte wohl geglaubt, er könne er sich alles erlauben, sich über alles hinwegsetzen ... Ich drückte fester.
»Nimm doch Vernunft an! Glaubst du, dies nützt Juliette?«
Philippe packte so grob zu, wie er konnte, doch damit machte er es nur noch schlimmer. Abbé de Villers sackte in die Knie. Sein Mund klappte auf und wieder zu wie das Maul eines Fischs.
»Petrus, wo hast du dein weiches Herz gelassen!«
Doch bevor ich Marie-Thérèses Ausruf begriff, schlug mir Philippe die leere Champagnerflasche ins Genick.
12.
Vor dem Trumeau, vor dem Arc de Triomphe: Alles ist anders, auch wenn es Quader regnet und Spatzen fliegen. Reglos verharrte ich auf der Stelle. Mir war leicht, aber ich hatte ein schlechtes Gewissen. Gewalt ist keine Lösung, plärrte es in mir, andererseits fühlte ich mich wie befreit. Die Quader schüchterten mich nicht mehr ein, stattdessen bekam ich Lust, alles um mich herum zu verspotten: den immergleichen magischen Weg durch einen Trumeau und einen Korridor, mich selbst, den absurden Arc de Triomphe mit seinen niederbrechenden Quadern und sogar die tschilpenden Spatzen. Ein seltsamer Wunsch nahm von mir Besitz: Ich wollte tanzen, um auf diese Weise meine Spottlust zum Ausdruck zu bringen.
So begann ich, mich walzermäßig zu drehen, was mich immer näher zum Durchgang des Triumphbogens führte. Plötzlich wusste ich: Mit Bewegung, Verspieltheit und Sorglosigkeit würde es mir gelingen, ihn zu durchqueren. Vertraue deinen Muskeln, rief eine Stimme in mir, sie wissen mehr als du. Alle Angst fiel von mir ab. Sorglos, ohne Gedanken und Empfindungen, tanzte ich drauflos und durchquerte, begleitet vom Tschilpen der Spatzen, den Triumphbogen.
Auf dessen Rückseite war alles so, wie ich es kannte. Rechts und links befanden sich die Zollhäuser, aber sie waren leer. In einem von ihnen brannte Licht. Ich ging hinein und betrat einen Raum, der an Philippes Gemäldesammlung erinnerte. Als ob du dafür Zeit hast, begehrte eine Stimme in mir auf. Sieh zu, dass du fortkommst!
»Aber hier hängt Juliettes Porträt!« rief ich.
»Kannst du denn ertragen, sie zu sehen?« fragte die Stimme.
Ich zögerte und bekam wieder Angst.
Hastig rannte ich ins Freie und eilte auf die Landstraße. Den Arc de Triomphe im Rücken fühlte ich mich ungeheuer einsam. Zu meiner Erleichterung empfing mich ein freundlicher Wald. Ich atmete auf und erfreute mich am Spiel von Licht und Schatten, ging drauflos und stellte glücklich fest, dass ich auf einem Waldweg unterwegs war, wie es ihn auch in den Vogesen gab. Steil bergauf gehend erreichte ich eine mit Felsblöcken übersäte und Krüppelfichten bewachsene Lichtung. Ein Trampelpfad führte direkt auf einen vorstehenden Felsen zu, und kaum dass ich auf ihm stand, schaute ich ins
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