Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
Vater dermaßen geringschätzig von seiner eigenen Tochter sprach. Wie häßlich konnte diese Comtesse Hélène de Carnoth überhaupt sein? Der Comte tat geradzu so, als sei sie eine zweite Margareta Maultasch!
»Hélène, mein Kind! Wir kommen dich besuchen.«
Auf das Klopfen hin, öffnete ein Mädchen die Flügeltüren. Sie knickste und huschte davon, sichtlich froh, die Räumlichkeiten der Comtesse verlassen zu dürfen – dass sie spöttisch grinste, wunderte mich schon nicht mehr. Comtesse de Carnoth, die das zweite Obergeschoß des Hauses für sich beanspruchte, empfing in einem stilsicher eingerichteten Directoire-Salon. Die Möbel waren nach römischem Vorbild gestaltetet, mit gebogenen Beinen und Bronzeverzierungen, die Fauteuilles mit nur dünnen Arm- und niedrigen Rückenlehnen. Die Strenge der Einrichtung wurde durch die Tapeten und Vorhänge, die Purpur und viel Sonnengelb zeigten, zwar ein wenig gemildert, dafür aber machte einen das nackte glänzende Parkett, ein illusionistisches Meisterwerk raumfömiger Kuben, schwindeln.
Hélène lag auf einer Chaiselongue und las.
Ich stutzte. Sie trug ein elfenbeinfarbenes, mit Rosen und Schleifen besticktes Kleid. Ärmel und Dekolleté schmückten dicht aneinandergesetzte Rüschen aus rosa Chiffon, ihre Samt-Pantoffeln zierte ein flauschiger Pompon - mit einem Wort, Comtesse de Carnoth war wie eine sehr weibliche und noch romantischere Grazie gekleidet. Auch war sie mit prächtigem Haar gesegnet, das ihr Haupt lockig umschmeichelte.
Nur, Hélène war lang! Lang wie ein Rebstecken, vielleicht sogar hoch wie ein Galgen. Das schlimmste aber waren ihre Füße, die jeweils das Ausmaß eines halbierten Folianten hatten. Dass die Natur vergessen hatte, sie mit einem Busen auszustatten, paßte zu ihrer Größe und Hagerkeit. Richtig grausam aber war ihr Silberblick, der erklärte, warum jeder, der länger in diese Augen gesehen hatte, ein spöttisches Gesicht machte.
»Hélène, mein Kind, die Herren Roland und Joffe sind dir ja bekannt, Monsieur Petrus hingegen habe ich dir noch nicht vorgestellt.«
Ich machte eine leichte Verbeugung, doch damit war es nicht getan. Comtesse de Carnoth war geneigt, mir einen Handkuß abzufordern – eine Auszeichnung, wie ich hinterher begriff, denn den Herren Roland und Joffe schenkte sie weder ein Lächeln noch ein Zucken ihrer blassen Augenbrauen.
»Monsieur Petrus - was auch immer meinen Vater bewogen hat, Sie an diesem Verhör teilnehmen zu lassen, Sie müssen mir versprechen, dass Sie, falls ich der Gewalt erliege, neutral bleiben und diesen Brief in der L'Ami du peuple veröffentlichen.«
»Womit Sie beliebten, eine Spur zu legen, Comtesse«, sagte Albert Joffe gemütlich. »Wir können damit ausschließen, dass Ihre Entführer aus dem Süden oder der Mitte des Landes stammen. Denn die L'Ami du peuple wird mit ein paar Ausnahmen vor allem in Paris und den nordöstlichen Départements gelesen.«
»Selbstverständlich. Aber was besagt das schon? Mich in Épernay freizulassen, stellt nur eine von vielen anderen möglichen Inszenierungen dar. Bernard ist kein Dummkopf. Er ist gebildeter als wir alle zusammen. Er liest das Journal des Débats und Voltaire genauso wie den Göttlichen Marquis.«
»Er heisst also Bernard und liest den göttlichen Marquis de Sade? Hélène, mein Kind, das sind wichtige Spuren … wie schön von dir, dass du uns so freizügig an deinen Erinnerungen teilhaben lässt. Es scheint …«
»Monsieur Petrus, nehmen Sie diesen Brief und handeln Sie, worum ich Sie gebeten habe. Denn ich fühle, das Verderben naht. Mir sitzt das Herz auf der Zunge. Einfühlsam wie Bernard ist, hat er all dies düster vorausgeahnt.«
Mechanisch griff ich nach dem Brief und steckte ihn in die Innentasche meines Rocks. Ich begriff so gut wie nichts, was auch daran lag, dass Hélènes pathetische Ausdrucksweise auf das kurioseste mit ihrer piepsenden Stimme disharmonierte und sie mich so inbrünstig mit ihrem Silberblick anschaute, als wäre sie in heftiger Liebe zu mir entbrannt. So unglaubwürdig es klingt: Hélènes Mitleid erregende, aber auch lächerliche Erscheinung reichten aus, einem vorübergehend den Verstand zu verwirren.
Sollte ich antworten? Würde ich ein derartiges Versprechen einhalten können? Unter Aufbietung nicht unerheblicher Geisteskräfte musste ich mich von ihrem Silberblick befreien, und erst als ich in die mühsam beherrschten Gesichter von Joffe und Roland schaute, begann ich zu begreifen,
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