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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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›Wissen Sie schon, Euer Wohlgeboren, unsere
frühere Wirtin ist gestorben.‹ – ›Wann denn?‹ – ›Heute abend, so vor
anderthalb Stunden.‹ Also war sie gerade zu der Zeit verschieden, als
ich sie ausschimpfte. Das machte einen solchen Eindruck auf mich, kann
ich Ihnen sagen, daß ich kaum meiner Sinne mächtig war. Wissen Sie, ich
mußte fortwährend daran denken; selbst in der Nacht träumte ich davon.
Ich bin ja wahrhaftig nicht abergläubisch; aber ich ging doch am
dritten Tag in die Kirche zu ihrer Beerdigung. Kurz, je weiter dieses
Ereignis in die Vergangenheit zurückrückt, um so mehr muß ich daran
denken. Und manchmal, wenn ich es mir so vergegenwärtige, wird mir ganz
schlimm. Der Hauptpunkt ist: was lag da vor, nach der Art, wie ich mir
die Sache schließlich zurechtlegte? Erstens, es war eine Frau,
sozusagen ein menschliches Wesen, und man redet ja in unserer Zeit so
viel von Humanität; sie hatte lange, sehr lange gelebt, schließlich war
sie müde und matt geworden. Sie hatte früher einmal Kinder, einen Mann,
eine Familie, Verwandte gehabt; alles hatte sozusagen um sie gewimmelt;
alle hatten sie sozusagen angelächelt – und auf einmal eine völlige
Leere; alles war in die vier Winde zerstoben, und sie war allein
geblieben wie ... wie eine von Ewigkeit her verfluchte Fliege. Und nun
endlich setzte Gott ihrem Leben ein Ende. Mit dem Untergang der Sonne
geht an einem stillen Sommerabend auch meine Alte dahin, gewiß nicht
ohne erbauliche Gedanken; und gerade in diesem Augenblick stellt ein
junger, hitziger Fähnrich, statt ihr sozusagen mit einer Träne das
Geleit zu geben, sich schräg vor sie hin, stemmt die Arme in die Seiten
und überschüttet sie bei ihrem Dahinscheiden wegen einer ihm genommenen
Terrine mit einer Flut der derbsten russischen Schimpfworte! Ohne
Zweifel habe ich mich da schuldig gemacht, und wiewohl ich jetzt so
lange nachher infolge der vielen seitdem vergangenen Jahre und der in
meinem Charakter vorgegangenen Veränderungen jene Handlung wie die
eines Fremden betrachte, so bedaure ich doch immer noch, so verfahren
zu sein. Das kommt mir (ich wiederhole es) sogar wunderlich vor; denn
wenn ich auch schuldig bin, so ist doch meine Schuld nicht übergroß:
warum mußte es ihr auch gerade in dem Augenblick in den Sinn kommen zu
sterben? Selbstverständlich gibt es nur eine Entschuldigung: meine
Handlung war vom psychologischen Standpunkt aus erklärlich; aber doch
konnte ich mich nicht eher beruhigen, als bis ich vor etwa fünfzehn
Jahren die Einrichtung traf, daß beständig zwei kranke alte Frauen auf
meine Kosten im Armenhaus unterhalten und ihnen so durch anständige
Verpflegung ihre letzten Tage auf dieser Erde freundlicher gestaltet
werden sollten. Und ich gedenke, diese Einrichtung durch Stiftung eines
Kapitals zu einer dauernden zu machen. Nun also, das ist alles. Ich
wiederhole, daß ich vielleicht sonst noch viel Übles in meinem Leben
begangen habe; aber diese Handlung halte ich, wie ich auf mein Gewissen
versichere, für die häßlichste meines ganzen Lebens.«
    »Und statt der häßlichsten haben Euer Exzellenz eine der besten
Handlungen Ihres Lebens erzählt; Sie haben Ferdyschtschenko geprellt!«
bemerkte dieser.
    »Wirklich, General, ich hätte nicht gedacht, daß Sie ein so gutes
Herz hätten; es ist ordentlich schade!« sagte Nastasja Filippowna in
lässigem Ton.
    »Schade? Wieso?« fragte der General mit freundlichem Lachen und trank nicht ohne Selbstgefälligkeit von seinem Champagner.
    Aber nun war die Reihe an Afanasi Iwanowitsch, der sich ebenfalls
vorbereitet hatte. Alle sahen voraus, daß er sich nicht weigern werde
wie Iwan Petrowitsch, erwarteten aus gewissen Gründen seine Erzählung
mit besonderer Neugier und blickten zugleich Nastasja Filippowna
forschend an. In einer sehr würdevollen Weise, die durchaus zu seinem
stattlichen Äußern paßte, begann Afanasi Iwanowitsch mit leiser,
freundlicher Stimme eines seiner »netten Geschichtchen«. (Beiläufig sei
folgendes bemerkt: er war eine ansehnliche Erscheinung, stattlich,
hochgewachsen, etwas kahlköpfig, mit etwas angegrautem Haar, ziemlich
wohlbeleibt, mit weichen, roten, etwas herabhängenden Backen und
falschen Zähnen. Er trug bequeme, elegante Kleider und wundervolle
Wäsche. Seine fleischigen, weißen Hände anzusehen war ein Genuß. Am
Zeigefinger der rechten Hand steckte ein kostbarer Brillantring.)
Nastasja Filippowna betrachtete während seiner ganzen Erzählung
unverwandt den

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