Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der illustrierte Mann

Der illustrierte Mann

Titel: Der illustrierte Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
Vom Netzwerk:
jemand anderen und wußte, daß es Simmons war, der ebenfalls aufrecht im Regen stand, Wasser schnaubend, hustend und keuchend. Und dann kam Pickard hoch, schreiend und umherspringend.
    »Einen Augenblick, Pickard!«
    »Aufhören! Aufhören!« schrie Pickard. Er feuerte seine Pistole sechsmal gegen den Nachthimmel ab. In dem mehrfachen Aufblitzen konnten sie Armeen von Regentropfen sehen, die scheinbar reglos einen Augenblick lang in der Luft hingen, als zögerten sie, erschreckt von der Explosion – fünfzehn Billionen Tropfen, fünfzehn Billionen Tränen, fünfzehn Billionen Schmucksteine, Juwelen in einem weiß unterlegten Schaukasten. Und dann, als das Licht verschwunden war, fielen die Tropfen, fielen über sie her.
    »Aufhören! Aufhören!«
    »Pickard!«
    Doch Pickard stand jetzt völlig still. Als der Leutnant eine kleine Taschenlampe anknipste und den Schein über Pickards nasses Gesicht spielen ließ, waren die Augen des Mannes weit aufgerissen, und sein Mund stand offen. Das Gesicht hielt er nach oben gerichtet, so daß das Wasser ihm in die Augen schlug und sie ertränkte, ihm in den Mund spritzte und Schaumbläschen an den Nasenlöchern bildete.
    »Pickard!«
    Der Mann antwortete nicht. Er stand einfach da, während der Regen durch sein ausgebleichtes Haar strömte und Fesseln aus Regenjuwelen sich tropfend um seine Handgelenke und um seinen Hals legten.
    »Pickard! Wir wollen weiter. Wir gehen jetzt. Kommen Sie mit!«
    Der Regen tropfte von Pickards Ohren.
    »Können Sie nicht hören, Pickard!«
    Es war, als schrie er in einen Brunnenschacht hinab.
    »Pickard!«
    »Lassen Sie ihn«, sagte Simmons.
    »Wir können doch nicht ohne ihn weitergehen.«
    »Was sollen wir tun – ihn tragen?« Simmons spuckte aus. »Er ist nur noch eine Last für uns und sich selbst. Wissen Sie, was er tun wird? Einfach hier auf dieser Stelle stehenbleiben und ertrinken.«
    »Was?«
    »Sie sollten das inzwischen eigentlich wissen. Haben Sie noch nie davon gehört? Er wird einfach hier stehenbleiben, das Gesicht nach oben, und sich den Regen in Nase und Mund fließen lassen. Er wird den Regen einatmen.«
    »Nein.«
    »Genauso haben sie damals General Mendt gefunden. Er saß auf einem Stein, den Kopf in den Nacken gelegt, und atmete den Regen ein. Seine Lungen waren voll Wasser.«
    Der Leutnant ließ den Lichtstrahl wieder auf das unbewegliche Gesicht fallen. Von Pickards Nase ertönte ein schwaches Geräusch.
    »Pickard!« Der Leutnant schlug ihm ins Gesicht.
    »Das fühlt er nicht einmal mehr«, sagte Simmons. »Ein paar Tage in diesem Regen, und man hat kein Gesicht, keine Beine und keine Hände mehr.«
    Der Leutnant sah voll Grauen seine Hand an. Er fühlte sie nicht mehr.
    »Aber wir können Pickard doch nicht hierlassen.«
    »Ich werde Ihnen zeigen, was wir für ihn tun können.« Und Simmons feuerte seine Pistole ab.
    Pickard fiel auf den regenschwimmenden Boden.
    »Bewegen Sie sich nicht, Leutnant«, sagte Simmons. »Ich habe meine Pistole auf Sie gerichtet. Denken Sie doch mal nach; er wäre hier nur stehengeblieben oder hätte sich hingesetzt und wäre ertrunken. Es geht nur rascher auf diese Weise.«
    Der Leutnant blickte bestürzt auf den Körper herab. »Aber Sie haben ihn getötet.«
    »Ja; er wäre nur eine Last gewesen und hätte sonst uns dadurch getötet. Sie haben sein Gesicht gesehen. Wahnsinnig.«
    Nach einem Augenblick nickte der Leutnant. »In Ordnung.«
    Sie machten sich auf durch den Regen.
    Es war dunkel, und der Schein ihrer Taschenlampen durchdrang die Finsternis und den Regen nur ein paar Meter weit. Nach einer halben Stunde schon mußten sie anhalten und auf die Dämmerung warten; den Rest der Nacht saßen sie in der Nässe, Schmerzen vor Hunger in den Eingeweiden. Als der Tag schließlich anbrach, war er grau und regnerisch wie immer, und sie machten sich von neuem auf den Weg.
    »Wir haben uns verlaufen«, sagte Simmons.
    »Nein. Eine Stunde noch.«
    »Sprechen Sie lauter. Ich kann Sie nicht hören.« Simmons blieb stehen und lächelte. »Gerechter Gott«, sagte er und befühlte seine Ohren. »Meine Ohren. Sie haben mich im Stich gelassen. Der dauernde Regen hat mich letzten Endes noch stocktaub gemacht.«
    »Können Sie überhaupt nichts hören?« fragte der Leutnant.
    »Was?« Simmons Augen blickten fragend.
    »Nichts. Kommen Sie weiter.«
    »Ich glaube, ich werde hier warten. Gehen Sie nur vor.«
    »Das können Sie nicht tun.«
    »Ich kann Sie nicht hören. Gehen Sie weiter. Ich bin müde. Ich

Weitere Kostenlose Bücher