Der im Dunkeln wacht - Roman
Brückenende der Hisingenseite war jedoch nicht zu sehen, da ein Felsen die Sicht versperrte. Dieser lag fast genau im Westen und stellte sicher einen guten Windschutz dar, wenn die Stürme vom Meer heranbrausten. Jenen Leuten, die ihre Balkons weiter unten hatten, raubte dieser Felsen jedoch die Sicht. Aber schließlich konnte man nicht alles haben. Irene begann an den Füßen zu frieren, da sie nur in Socken auf dem Balkon stand. Mit einem letzten Blick aufs Wasser trat sie wieder in die Wohnung.
Die Küche war hypermodern, alle Küchengeräte bestanden aus grauem Stahl. Die Schranktüren waren aus massiver Eiche, was zu den schwarzen Arbeitsplatten und dem hellgrauen Steinboden sehr gut passte. Vor dem hohen Fenster stand ein Esstisch
mit einer ausklappbaren Platte und sechs Stühlen. Ob Efva ihre Freunde wohl oft zum Essen einlud? Was für Freunde überhaupt? Irene hatte nie von irgendwelchen Freunden gehört.
Sie fand Tommy in Efvas Schlafzimmer. Hier stand ein großes Doppelbett mit einer weißen Tagesdecke und grellrosa Kissen. Auch die Bettvorleger waren rosa. Zwei große gerahmte Plakate hingen über dem Bett. Eine nackte Frau und ein nackter Mann. Hier ahnt man vielleicht mehr von Efvas Persönlichkeit, dachte Irene. Tommy hatte ihr den Rücken zugewandt und schaute aus dem Fenster. Draußen war es stockdunkel.
»Erzähl«, sagte Irene.
Er rührte sich nicht. Vielleicht hatte er sie nicht gehört. Gerade als sie ihre Bitte wiederholen wollte, merkte sie, dass er weinte. Sie hörte ein leises Schluchzen, und seine Schultern bebten. Plötzlich begriff Irene, dass sie nicht die Einzige war, die sich einsam fühlte. Sie trat auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Tommy. Komm. Wir setzen uns, und dann reden wir.«
Willenlos ließ er sich ins Wohnzimmer führen. Schwer ließ er sich auf einen der eleganten Ledersessel fallen. Irene zog ein Papiertaschentuch aus der Tasche und reichte es ihm.
»Danke«, murmelte er und schnäuzte sich.
»Willst du was trinken?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
Irene nahm ihm gegenüber Platz und wartete darauf, dass er begann. Er ließ die Schultern hängen und schien nicht die Kraft zu haben, etwas zu sagen. Irene beschloss, den Anfang zu machen.
»Wie nahe steht ihr euch eigentlich, Efva und du?«, fragte sie ohne Umschweife.
Er hob den Kopf und sah sie an. In seinen Augen standen Tränen. In den sechsundzwanzig Jahren, die sie sich jetzt kannten, hatte sie ihn noch nie weinen sehen.
»Wir … wir waren seit Ende letzten Jahres zusammen.«
»Und warum habt ihr das nicht gezeigt?«
Er warf ihr einen schnellen kritischen Blick zu, aber sie ließ mit keiner Miene erkennen, dass sie das schon lange geahnt hatte.
»Efva wollte das nicht. Sie fand, dass auch so schon zuviel geredet wurde.«
»Und was findest du?«
Er holte tief Luft, schien gewissermaßen Anlauf zu nehmen:
»Irene, es ist genauso gut, wenn ich es gleich sage. Wir haben Schluss gemacht. Es ist vorbei.«
Auch das war für Irene keine größere Überraschung, es gelang ihr aber, eine bedauernde Miene aufzusetzen.
»Wann?«
»Vor zwei Wochen.«
»Bist du sehr traurig?«, fragte sie vorsichtig.
»Schon … Aber vorbei ist vorbei.«
Das klang vernünftig, aber Irene hörte, dass seine Stimme zitterte. Die Trennung war offenbar ein schwerer Schlag für ihn gewesen. Es war wunderbar, dass er sich ihr plötzlich anvertraute. Allerdings kam es auch ein wenig überraschend. Hatte Efva Schluss gemacht? Liebte er sie immer noch? Aber diese beiden Fragen durfte sie nicht stellen. Stattdessen sagte sie:
»Warum wurde Efva Opfer des Paketmörders? Sie passt zwar vom Alter her gut ins Profil, aber sie wohnt nicht in den westlichen Stadtteilen. Es gibt auch keinerlei Berührungspunkte mit dem Frölunda Torg. Oder hat sie da gelegentlich eingekauft?«
»Soweit ich weiß, nicht. Aber er könnte sie im Fernsehen gesehen haben. Sie ist im August in diesem Fahndungsprogramm im Fernsehen aufgetreten. Du weißt schon, dieser Mord in Hindås.«
Irene erinnerte sich. Sie hatte mit der Ermittlung jedoch nichts zu tun gehabt. Eine alleinstehende Sechzigjährige war einige hundert Meter von ihrem Haus in Hindås entfernt ermordet aufgefunden
worden. Niemand hatte etwas gesehen, da das Haus abgeschieden lag. Die Polizei hatte kein Spur und beschlossen, den Fall im Programm »Efterlyst« im Sender TV 3 zu präsentieren. Es bestand die Möglichkeit, dass irgendein zufälliger Spaziergänger oder
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