Der Implex
verlassen wie viel später Herr Kriege, und dafür trifft sie Bayles Verdikt, denn ihr Erleben ist begriffslos – im Gegensatz zu dem der Hipparchia, die, wie Bayle schrieb, »keinerlei Skrupel« hatte, den kynischen Philosophen Krates mitten auf der Straße zu lieben, aber eben nicht aus Wahllosigkeit und dem Bedürfnis, sich von der Sprache und dem Dialog zu verabschieden, sondern als dessen Zuspitzung, nicht als Flucht vor dem Argument, sondern aus dem Willen, gegen die Wetterwendischkeit von Gelegenheit und Widerreden auf dem von ihr für richtig Erkannten zu beharren, denn sie war
»von den Reden (!, KD) dieses Kynikers so entzückt, daß sie ihn um jeden Preis heiraten wollte. Eine große Anzahl von Verehrern, die sich durch Abstammung, Reichtum und gutes Aussehen auszeichneten, hielt um ihre Hand an. Sie wurde von ihrer Familie bedrängt, sich einen Ehemann aus diesen Rivalen zu wählen, aber nichts vermochte sie von Krates abzubringen. Sie erklärte, daß Krates ihr alles bedeute und daß sie sich erstechen würde, wenn man sie nicht mit ihm verheirate. Auf diese Erklärung hin wendete sich die Familie an Krates und bat ihn, seine Redegewandtheit und seine ganze Autorität bei dem Mädchen einzusetzen, um sie von ihrer Leidenschaft zu heilen. Er tat das, ohne das Geringste bei diesem halsstarrigen Mädchen zu erreichen. Als er schließlich sah, daß seine Argumente und Ratschläge keinerlei Wirkung zeigten, stellte er dem Mädchen seine Armut vor Augen: Er zeigte ihr seinen Buckel, legte seinen Stock, seinen Bettelsack und seinen Mantel auf den Boden und sagte zu ihr: ›Das ist der Mann, den Du haben, und die Möbel, die Du bei ihm finden wirst. Denk gut darüber nach, Du kannst nicht meine Frau werden, ohne das Leben zu führen, das unsere Sekte vorschreibt‹– er hatte kaum aufgehört zu sprechen, da erklärte sie, daß ihr diese Aussicht unendlich gut gefalle. Sie nahm die Ordenstracht, ich will sagen die Kleidung der Kyniker, und band sich so stark an Krates, daß sie mit ihm überall herumzog, mit ihm zu Festen ging und keinerlei Skrupel hatte, ihm die eheliche Pflicht mitten auf der Straße zu leisten«. 104
Bayle sagt tongue in cheek, sie habe sich zu diesen Schamlosigkeiten verstanden, um »ihm zu gefallen«, aber es ist ihm, wie der zitierte Passus zeigt, sehr wichtig, dabei zu betonen, daß sie darin ihrem eigenen Kopf, ihrem eigenen Willen folgte, sexuelles Subjekt war, denn selbst seine Rhetorik konnte sie nicht abbringen von dem, was ihr Herz begehrt – eine Widerstandskraft, die sie, wie Bayle fasziniert weitererzählt, auch in Disputationen mit Philosophenkollegen und -konkurrenten ihres Mannes bewiesen haben soll, etwa gegenüber Theodorus, der sie an Schicklichkeit und Konvention zu erinnern suchte, ohne die sie als Frau moralischen und geistigen Schiffbruch erleiden müsse – »als Theodorus ihr einen Vers aus einer Tragödie zitierte, in dem es um eine Frau ging, die Spinnrocken und Spindel verlassen hatte, antwortete sie: ›Ich erkenne mich darin wieder, ich bin diese Frau. Aber glaubt ihr, ich hätte eine schlechte Wahl getroffen, weil ich meine Zeit lieber nutzen will, um zu philosophieren als um zu spinnen?‹« 105 – Bayle schließt seinen Artikel über die Stolze mit ein paar lauen Ermahnungen, in denen man gerade beim Vergleich mit dem Bannstrahl, der die Turlupiner trifft, leicht Vorsichtsmaßnahmen gegen die mögliche Identifikation des Enzyklopädikers mit den Absichten und Ansichten seiner Heldin erkennen kann. Die Philosophin »denkt sich was dabei«, das macht sie für Bayle interessant und hebt sie von Mystikern ab, die durch ihre Überschreitungen das Denken loswerden wollen. Dieses sehr ernste Spiel mit Reflexion, also auch Inszenierung, war in dem Zeitalter, in dem Bayle schrieb, und in der Sprache, in der er dachte, ein bevorzugter Gegenstand der Literatur geworden, und zwar der lyrischen und dramatischen ebenso wie vor allem jener, die mit der bürgerlichen Emanzipation zur vorherrschenden wurde, der Prosa.
Im Vorhof und auf der Höhe der französischen Klassik versammeln sich die einschlägigen Motive in auf Jahrhunderte hinaus musterbildenden Anordnungen, ob da die Théophile de Viau zugeschriebene Sammlung des »satyrischen Parnaß« von 1622 die Öffentlichkeitsfrage fürs Erotische in Gestalt eines Zensurstreits aufwirft, weil in diesem ohne königliche Druckerlaubnis erschienenen Werk Spielarten der körperlichen Liebe vorkommen, die man vordem selten
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