Der indische Fluch
Schöne war offenbar eine gleichermaßen zwanghafte wie perfekte Mörderin und es schien nichts zu geben, was ihren unheimlichen Kräften Einhalt gebieten konnte.
Es war ein Spiel mit dem Tod. Und ohne es auszusprechen, wußten wir es beide.
Immer weiter ging es durch das dichte Gestrüpp.
Halb verweste und von Spinnweben überwucherte Vögel lagen vor unseren Füßen. Ich sah nicht länger hin als unbedingt notwendig.
"Ich hoffe, du hast dir den Weg gemerkt!" meinte Josh leichthin, aber in dieser Situation hatte ich keine Antenne für seine flapsige Art.
Und dann wurde irgendwann ein Loch im dichten Blätterdach der Baumkronen sichtbar. Eine Öffnung, durch die das gleißende Sonnenlicht grell hereinkam.
Eine Lichtung.
Wir hatten sie bald erreicht und mußten uns erst einige Augenblicke lang an die Helligkeit gewöhnen.
Die Lichtung war kreisförmig und hatte einen Durchmesser von nicht mehr als einigen Dutzend Metern.
Das Gras war hoch, aber durch Regen und Wind plattgedrückt.
Eine verdorrte Spur führte direkt zum Zentrum dieser Lichtung...
Mir stockte der Atem.
"Ratami!" flüsterte ich.
Kalter Angstschweiß stand mir auf der Stirn, während von hinten eine Hitzwelle Josh und mich erfaßte. Ich wandte ein wenig den Kopf und sah aus den Augenwinkeln heraus mannshohe Flammen aus der Erde emporschießen.
Unwillkürlich machten Josh und ich ein paar Schriite vorwärts.
"Mein Gott", flüsterte er. "So etwas kann es doch nicht geben."
Wir waren jetzt nur noch wenige Meter von Ratami entfernt.
Ihre Augen musterten uns mit einem Ausdruck, den ich nicht erklären konnte. Sie stützte sich auf etwas Graues, Steinernes...
Einen Grabstein.
Uralt war er und die Schrift war kaum noch zu lesen...
Hier ruht Reverend Charles Morley, ein unermüdlicher Diener des Herrn und unerbittlicher Gegner des Bösen.
Das stand auf dem Stein. Sein Geburts- und Todesdatum war nicht mehr lesbar.
Was will sie hier? schoß es mir sofort durch den Kopf. Was zog Ratami zum Grab jenes Mannes, der für ihr Verderben verantwortlich war?
Es mußte einen Grund dafür geben.
Wieder züngelten Flammen hinter uns empor. Es war keine Frage, daß sie dafür verantwortlich war. Mir schauderte bei dem Gedanken an die gewaltigen Kräfte, über die sie verfügen mußte.
Ratami machte einen Schritt auf uns zu.
In ihren Augen blitzte es kalt und grausam. Sie hob ihre Hand und die schwarze, verkohlte Innenfläche wurde sichtbar.
"Was hat sie vor?" flüsterte Josh.
"Sie wird uns töten!" erwiderte ich tonlos, während die aus dem Boden schießenden Flammen in unserem Rücken uns beiden klarmachte, daß es keinen Fluchtweg gab.
Schritt für Schritt kam sie näher und die blanke Verzweiflung ergriff mein Herz mit eiserner Hand.
Wir sahen dem personifizierten Tod entgegen, ohne die geringste Aussicht, ihm entkommen zu können.
Es gab nichts, was wir noch tun konnten.
*
Ich zitterte und schloß für einen Moment die Augen. Und dann sah ich einen Armreif vor mir. Ein goldener Armreif mit drei roten Rubinen, von denen ein eigentümliches Funkeln ausging.
Der Armreif war mit allerlei magischen Zeichen graviert worden.
Eine Vision!
Erschrocken riß die Augen wieder auf und erwiderte Ratamis undeutbaren Blick, der mich fixiert hatte.
Sie war stehengeblieben, hielt aber noch immer die schwarze Hand hoch erhoben, wie eine Drohung.
Ich öffnete die Lippen und konnte nur eine einzige Frage herausbringen.
"Warum?" wisperte ich. "Warum all die Taten?"
Verflucht... Verdammt...
Erst glaubte ich, Ratamit hätte gesprochen, aber ihr Mund hatte sich nicht bewegt.
Du verstehst mich? Ich habe es schon so oft versucht, in all den lange Jahren... Aber sie hören mich nicht. Auch dein Begleiter nicht. Du bist mit einer besonderen Gabe ausge-stattet...
Es waren fremde Gedanken, die da in mein Inneres eindrangen. Ich schluckte.
"Warum all die Toten?" fragte ich laut.
Weil ich keine Wahl habe. Durch meinen eigenen Fluch bin ich verdammt dazu, zu töten. Immer wieder. Ich finde keine Ruhe und keinen Frieden. Als wandelnde Tote geistere ich durch diesen Wald und die düsteren Mauern von Pembroke Manor, aber in all den Jahren ist das Bedürfnis nach Rache längst erloschen... Und doch kann ich nicht aufhören, zu töten..."
"Auch uns?" fragte ich.
Sie antwortete nicht. Stattdessen wich sie einen Schritt zurück. Sie senkte ihre Hand, aber es schien beinahe so, als würde diese Hand ein Eigenleben haben. Ihr Gesicht verzog sich. Ein innerer Kampf
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