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Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon
Autoren: Heinz G. Konsalik
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zu wenig. In den abgeschiedenen Provinzen leben die Menschen, als sei die Zeit stehengeblieben. Weißt du, daß es in China über achthundertfünfundachtzigtausend Dörfer gibt, daß in den Städten je Person nur drei Komma fünf Quadratmeter Wohnraum zur Verfügung steht, daß du, wenn du von Shanghai nach Beijing willst, keinen Arbeitsplatz bekommst, weil du keiner ›Einheit‹ angehörst und damit eine Null, gar nicht vorhanden bist? Bist du nicht Mitglied einer ›Einheit‹, bekommst du keinen Schlafplatz und hast kein Recht auf Krankenversorgung; niemand wird sich im Alter um dich kümmern, du bekommst keine Lebensmittelkarten, um dir vom Staat subventionierte Grundnahrungsmittel zu kaufen, mit einem Wort: Du bist ein lebender Toter, nur die ›Einheit‹ macht dich zum Menschen. Diese unglaublichen Dinge werden wir eines Tages, sehr bald sogar, vor allen Völkern der Erde bei ihrem wahren Namen nennen.«
    Jian sah durch das Fenster auf den gepflegten Garten hinaus, in dessen Mitte ein Springbrunnen glitzernde Wasserkaskaden hervorzauberte. »Warum willst du für China kämpfen?« fragte er. »Du bist doch ein Deutscher.«
    »Ich habe an Deutschland kaum noch eine Erinnerung. Ich bin wie ein Chinese erzogen worden, und ich denke und fühle chinesisch.« Holger streckte Jian die Hand entgegen. »Kommst du zu uns, Jian? Hilfst du mit, China in eine bessere Zukunft zu führen? Dein China?«
    »Ich bin nach Beijing gekommen, um zu studieren, und nicht, um zu demonstrieren«, antwortete Jian ausweichend. »Ich will Arzt werden, aber kein Märtyrer. Denn wenn auch zehntausend Studenten auf die Straße gehen – euch stehen hunderttausend Soldaten gegenüber. Ein Sprechchor gegen Maschinengewehre und Panzer.«
    »Kein Soldat wird die Waffe gegen uns erheben, denn die Welt schaut uns zu. Und Deng Xiaoping ist kein Mao, er weiß, daß es ohne Demokratie kein neues China geben kann. Nur, es geht alles zu langsam. Wir dürfen keine Schnecken, sondern müssen Adler sein. Das ist eine Parole von Bai Hongda.«
    »Ich möchte ihn kennenlernen«, sagte Jian. Sein Verstand sagte ihm, daß er nicht in Holgers hingehaltene Hand einschlagen sollte. »Wir haben auch in Kunming diese heimlichen Studentengruppen – «
    »Es gibt sie an jeder Universität.«
    »– aber ich glaube nicht, daß eine neue Revolution mehr bringt als wieder Tausende von Toten. Jeder sollte seine eigene Freiheit suchen, so, wie sie ihm richtig erscheint.«
    »Kann das ein Bauer in Qinghai oder ein Fahrradschlauchflicker in Shiyan?«
    »Für sie wird sich nichts ändern, selbst wenn wir die vollkommene Freiheit der westlichen Länder erreichen könnten. Unser Denken kannst du nicht gleichsetzen mit dem im Westen. Wir sind über eine Milliarde Chinesen, die seit Jahrtausenden für die übrige Welt ein Geheimnis sind.«
    »Welch ein Potential, wenn es befreit ist!« Holger erhob sich und ging zur Tür. »In den nächsten Tagen wirst du mit Bai Hongda sprechen. Er wird dich über seine Pläne informieren.«
    »Weiß dein Vater von eurer Verschwörergruppe?«
    »Nein. Er ahnt es nicht einmal.«
    »Und du hast keine Angst, daß ich es ihm erzähle, aus Dankbarkeit, daß er mich in sein Haus aufgenommen hat?«
    »Ich habe Vertrauen zu dir, Jian.« Holger sah Jian aufmerksam an. »Du hast gute Augen«, sagte er dann, »und einen wachen Verstand. Ich täusche mich nicht – du bist ein Chinese für die Zukunft. Du gehörst zu uns.«
    In den kommenden Tagen lernte Jian nicht nur Bai Hongda kennen, sondern auch Charly Reindl.
    »Unser Uradliger«, sagte Reindl und klopfte Jian auf die Schulter, als sei er ein Skatbruder in einer Ruhrkneipe. »Ich gestehe, ich habe etwas anderes erwartet.« Jian trug jetzt wie Holger Jeans, ein bedrucktes T-Shirt und bequeme Sportschuhe. »Ich habe gedacht, da kommt ein feiner Pinkel.«
    »Man soll nur denken, wenn man etwas weiß«, erwiderte Jian. »Wir haben in China einen alten Spruch: ›Die Zunge des Weisen liegt in seinem Herzen, das Herz des Narren liegt auf seiner Zunge.‹«
    »Oh, das sitzt!« lachte Reindl. Er war weit davon entfernt, beleidigt zu sein. »Ihr Chinesen seid wie unsere Bibel: Ihr habt für alles einen Spruch. Aber was machen wir heute abend? Gehen wir ins ›Beijing Kaorouji‹ am Shisha-See? Da gibt es nicht nur Hammelfleisch vom mongolischen Grill, sondern auch jede Menge Mädchen.«
    In der Nacht, als sie vom ›Beijing Kaorouji‹ zurückgekommen waren, fragte Jian: »Holger, ist dieser Charly dein
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