Der Jade-Pavillon
dem Bus zur Verbotenen Stadt und sehe sie mir an«, sagte Lida. Dann zögerte sie, senkte den Kopf, und ihr Gesicht färbte sich rot vor Scham. »Ich … ich habe keinen Yuan.«
Jian griff in die Tasche, holte ein Bündel Scheine heraus und drückte sie Lida in die Hand. »Ich bin unaufmerksam«, entschuldigte er sich. »Was mir gehört, ist auch dein. Sag immer, was du brauchst.«
»Ich schäme mich, so arm zu sein.«
»Du bist nicht arm, du bist meine Frau. Du willst dir neue Kleidung und neue Wäsche kaufen? Kauf dir, was dir gefällt.«
Erst jetzt sah er, daß sie die alte Segeltuchtasche mitgenommen und neben ihrem Stuhl auf den Fußboden gestellt hatte. »Wirf diese schreckliche Tasche weg! Was hast du eigentlich darin?«
Sie bückte sich, hob die Tasche hoch, setzte sie auf den Tisch und riß den Reißverschluß auf. Sie holte einen Gegenstand heraus, der in ein schmutziges Handtuch gewickelt war, und als sie es entfernte, kam der Jade-Pavillon zum Vorschein.
»Du hast ihn immer bei dir gehabt?« fragte er heiser vor Ergriffenheit. »Den ganzen langen Marsch von Huili bis Beijing?«
»Ich wäre nie ohne ihn gegangen, und wenn ich keine Kraft mehr hatte, wenn ich irgendwo im Stroh lag und mich darauf vorbereitete, vor Erschöpfung sterben zu müssen, dann habe ich mit ihm gesprochen, denn dann warst du bei mir, und wenn ich ihn berührt habe, spürte ich, wie neue Kraft in mir wuchs und der lange Weg nach Beijing gar nicht mehr so lang war.« Sie wickelte den Jade-Pavillon wieder in das schmutzige Handtuch und legte ihn in die Tasche zurück. »Wenn ich bei der Demonstration neben dir gehe, hänge ich ihn mir um den Hals. Er wird uns schützen, auch gegen die Soldaten.«
»Es wird keine Soldaten geben«, sagte Jian, und er glaubte wirklich daran. »Bai Hongda hat die besten Informationen. Die Armee wird auf unserer Seite sein.«
Sie gingen in die Eingangshalle hinaus, nickten sich noch einmal zu, und dann eilte Jian zu seinem Hörsaal, wo der Vortrag schon begonnen hatte; Lida stellte sich in die Reihe der auf den Bus Wartenden und fuhr in die Innenstadt. In der Tasche ihrer Steppjacke knisterten die Yuan-Scheine; sie hatte noch nie so viel Geld auf einmal in der Hand gehabt.
Ich werde mir einen bunten Pullover und eine gelbe Hose kaufen, dachte sie. Und eine rote Kappe. Sie stieg am Tiananmen-Platz aus, dem ›Platz des Himmlischen Friedens‹.
Über dem Tor des Himmlischen Friedens, dem Eingang zum alten Kaiserpalast, der Verbotenen Stadt, hing ein riesiges Mao-Bild. Lida blieb stehen, starrte zu ihm empor, und Tausende gingen an ihr vorbei in die Verbotene Stadt, Chinesen und viele Ausländer, die ihrem Dolmetscher folgten, der ein Fähnchen oder ein Schild hochhielt, damit sich niemand verlaufen konnte.
Sie hatte noch nie so etwas Prächtiges gesehen. Zögernd trat sie unter Maos Bild durch das Tor des Himmlischen Friedens und ging voll Ehrfurcht zur Halle der Großen Harmonie. Sie war stumm vor Staunen über so viel Schönheit.
Die Studenten trafen sich nicht mehr heimlich, sondern an dem 1958 eingeweihten, riesigen Obelisken, dem Denkmal für die Helden der Nation, mitten auf dem Tiananmen-Platz. Die Führer der einzelnen Gruppen umringten Bai Hongda, und daß sie jetzt öffentlich zusammenkamen, unter den Augen der Polizei, bewies ihnen, daß die Zeit reif war.
»Hu Yaobang ist tot«, sagte Bai, und er gab sich keine Mühe, leise zu sprechen. »Vergessen wir nicht, daß er 1987 als Chef der Kommunistischen Partei unseren Ruf nach mehr Demokratie und innerer Freiheit nicht bekämpft, sondern zu uns gehalten hat. Seine Sympathie galt unseren Ideen. Man hat ihn dafür bekämpft, beschimpft und einen Verräter genannt, man hat ihm alle Ämter genommen und ihn geächtet – aber er war ein Mann, der Chinas Zukunft sah. Jetzt ist er tot, und es ist unsere Pflicht, ihn so zu ehren, wie es sich gehört. Morgen werden wir hier am Obelisken sein Bild aufhängen, und ein Meer von Blumen soll ihn umgeben, und wir wollen unsere Stimmen erschallen lassen und den starren alten Männern, die ihn verjagt haben, zuschreien: ›Ehre für Hu Yaobang! Rehabilitiert den großen Mann! Setzt seinen Namen auf die Liste unserer Helden!‹ Es muß ein Ruf sein, der die Wolken vom Himmel holt.«
»Und wie reagieren wir, wenn man die Demonstration verbieten will?« fragte Holger.
»Sie können sie nicht verbieten.« Reindl fuchtelte mit beiden Armen. »Hier auf dem Platz des Himmlischen Friedens haben 1976
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