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Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon
Autoren: Heinz G. Konsalik
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schwache Feuer nicht aufflammen zu lassen, indem man hineinblies. Sie hofften, daß die Studenten sehr schnell ihre Demonstrationen beenden würden, wenn sie einsahen, daß ihre Worte vom Wind verweht wurden.
    Doch nach wenigen Tagen änderte sich das Bild. In Beijing liefen die Berichte der Provinzfunktionäre ein. In allen großen Städten war durch Radio und Fernsehen der Aufstand der Studenten bekannt geworden, und wo es eine Universität gab, gingen nun auch deren Studenten auf die Straßen und Plätze und demonstrierten. Am ärgsten war es in Shanghai, wo Tausende die Faust zum Himmel reckten und »Freiheit! Freiheit!« schrien.
    Es war, als sei ein Damm gebrochen und eine riesige, unaufhaltsame Flutwelle überspüle das Land. Die Meldungen, die bei Charly Reindl zusammenliefen und die er jeden Abend Bai Hongda vorlegte, bewiesen, daß die Proteste von Beijing eine Fackel waren, die überall neue Brände entfachte.
    »So ist es gut!« sagte Bai zufrieden. »Das haben wir gewollt. Der Aufschrei von Millionen wird die alten Männer wegfegen. Die ganze Welt blickt auf uns und erwartet, daß etwas geschieht. Die Demokratie ist nicht mehr aufzuhalten. Wir werden siegen, Freunde, wir werden siegen!«
    Im Mai hatte das Fieber der Freiheit die Chinesen voll erfaßt: Auf dem Platz des Himmlischen Friedens versammelten sich jeden Tag Hunderttausende von Menschen aller Schichten, vom Professor bis zum Fabrikarbeiter, vom Intellektuellen bis zum Straßenkehrer, vom Ladenbesitzer bis zum Garkoch. Sie diskutierten über Presse- und Redefreiheit, über die Korruption der Funktionäre, über eine Regierung, die wirklich vom Volk gewählt war, über die Zerschlagung der Macht der Kommunistischen Partei. Und jeden Tag hielt Bai Hongda seine flammenden Reden und riß die Massen mit, und selbst Funktionäre der Geheimpolizei hörten ihm zu, kamen zu ihm und sagten: »Wir vertrauen dir, daß du uns nicht verrätst, aber wir haben flüstern hören, daß Deng Xiaoping die Geduld verliert und das Militär alarmieren will. Laß es nicht soweit kommen. Wir wissen, Millionen schützen euch, eine Mauer von Menschen wird euch umgeben, aber du weißt auch, daß in China tausend Tote so wenig wert sind wie ein umgeknickter Reishalm.«
    »Sollen sie kommen, die Soldaten!« rief Reindl, und seine Augen leuchteten voll Fanatismus. »Unsere Leiber werden sie aufhalten.«
    Tag für Tag standen Hunderttausende auf dem Platz des Himmlischen Friedens, der jetzt vom Volk umgetauft wurde in ›Platz der Irdischen Unruhe‹. Und Tag für Tag stand auch Jian in den Reihen der Studenten, und neben ihm stand Lida, die Kunstledertasche mit dem Jade-Pavillon um die Schulter gehängt.
    »Wird die Armee kommen, Jian?« fragte sie. Es war der 1. Juni 1989.
    »Sie ist schon da. Sie steht vor der Stadt und wartet. Über hundert Panzer, und sie nennt sich nicht mehr Armee, sondern Volksbefreiungsarmee. Wenn sie marschiert, soll sie das Volk von uns, den Demonstranten, befreien. Wir werden dann vogelfrei sein, und jeder darf uns abschießen.«
    »Dich auch, Jian?« fragte sie mit schwankender Stimme.
    »Mich auch. Ich gehöre zum engsten Kreis der Revolutionäre; sie werden mich bis in den hintersten Winkel unseres Landes jagen.«
    »Wenn du das weißt, warum bist du dann noch hier? Komm, laß uns gehen und uns verstecken!«
    »Dazu ist es jetzt zu spät.« Jian legte den Arm um Lida, zog sie an sich und spürte, daß sie am ganzen Körper zitterte. »Ich müßte mich selbst umbringen, wenn ich jetzt meine Kameraden verrate.«
    »Ich bin zu dir gekommen, um mit dir zu leben«, sagte sie. »Leben, Jian – nicht um mit dir für ein Hirngespinst zu sterben.«
    Jian machte eine weite Armbewegung, die den ganzen riesigen Platz umfaßte. »Sind das Irre, die jeden Tag hier stehen, oder sind es Menschen, die an ein neues China glauben und darum kämpfen werden? Das Feuer, das wir entfacht haben, ist nicht mehr auszutreten. Es brennt die Diktatur weg und läßt einen reinen Himmel über China scheinen. Die Welt hält den Atem an.«
    »Die Welt! Die Welt! Die Welt! Was ist das, die Welt? Hilft sie dir oder Bai oder den Studenten oder dem Volk? Die Welt sieht nur zu, als fände hier eine riesige Beijing-Oper statt. Und wenn hundert Millionen getötet werden, wird man sagen: ›Was ist das schon bei über einer Milliarde?‹ Das ist die Welt!« Lida faßte Jian an der Hand und wollte ihn mit sich ziehen. »Komm, laß uns gehen!«
    »Ich bleibe. Ein Tong flüchtet
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