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Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wie damals. Kommissar Chang!«
    »Nein, der Krüppel Chang. Die Hunde flüchten vor mir, wenn sie mich sehen.« Er schob den Strohhut zurück und zeigte sein Gesicht.
    Huang spürte, wie sein Magen vor Übelkeit zuckte.
    »Warum wendest du dich nicht ab, Huang?« fragte Chang. »Warum schreist du nicht: ›Geh weg, dein Anblick ist wie der eines zerschnittenen Drachens!‹?«
    »Was haben sie mit dir gemacht, Chang?«
    »In meinem Gesicht haben sie brennende Zigaretten ausgedrückt, mit einer Eisenstange haben sie mir das linke Bein zertrümmert, mein Körper ist wie ein Schachbrett, blutige Narben kreuz und quer.«
    »Wer hat das getan, Chang?«
    »Meine Rotgardisten!« Chang zog sich den Strohhut wieder ins Gesicht und blickte vom Hügel über das Land, als könne sein Blick damit das ganze China übersehen, dem er, nach seiner Ansicht, so treu gedient und das es ihm schmählich gedankt hatte. Zwei Tage nach der Verhaftung der ›Viererbande‹ im Jahr 1976 umringten ihn seine Rotgardisten und prügelten auf ihn ein, warfen ihn zu Boden, hielten ihn an Armen und Beinen fest und drückten ihre Zigaretten auf seinem Gesicht aus. Dabei verspotteten sie ihn und erwarteten, daß er schreie und um Gnade flehe. Aber Chang tat nichts dergleichen; er erduldete lautlos alle Pein, und als die Schmerzen zu arg wurden, fiel er in eine Besinnungslosigkeit, die ihn von allem befreite.
    Es war ein Wunder, daß sie ihn leben ließen, daß sie ihn auch nicht daran hinderten, wegzukriechen und sich so lange bei einem Fahrradhändler zu verstecken, bis sein zerschmettertes Bein geheilt war. Und dann war er in dem Ort Zigong geblieben, zuerst als Schuhverkäufer auf dem Markt, später als Hosenhändler und zuletzt bei einem Schreiner als Sargmacher, wobei er auch die Toten waschen und aufputzen mußte, damit sie im Sarg friedlich und wie vom Leben erlöst aussahen.
    So gingen die Jahre dahin, und ab und zu dachte Chang an die kleine Lida Huang in dem Miao-Dorf Huili und fragte sich, was wohl aus ihr geworden war. Ein großes Mädchen mußte sie jetzt ja sein, vielleicht schon eine junge Frau und Mutter, die sich kaum noch an den Kommissar Chang Lifu erinnern würde, der damals nur ihretwegen die Familie leben ließ, das Dorf nicht niederbrannte und die Bewohner nicht hinrichten ließ. Der große, gefürchtete Chang – ein Krüppel war von ihm übriggeblieben! Es war ihm so ergangen wie vielen, denen Mao wie ein neuer Gott vorgekommen war: Die Revolution hatte sie mitgerissen in den Abgrund. Die neue Zeit zerstampfte sie.
    »Komm ins Haus«, sagte Huang mit erstickter Stimme. In diesem Augenblick erinnerte er sich an die Sittenlehren, die er seinen Schülern gegeben hatte und nach denen sie leben sollten: Verzeihe deinen Feinden, wenn sie am Boden liegen. Strafe nicht die Wehrlosen, die deiner Gnade bedürfen. Sei ein Held, indem du den Besiegten an deine Brust drückst. Was sollte er nun tun mit diesem Krüppel, der Menschen getötet und ihren Tod befohlen hatte? Es war eine Zahl von Hingemordeten, die niemand kannte, nicht einmal er selbst, denn er hatte nie gezählt, wieviel Leichen er jeden Tag zurückließ. Was er getan hatte, konnte er in diesem Leben nicht mehr büßen, aber vielleicht war das Weiterleben als Mißgestalt eine Strafe, die ihn ärger traf als ein schneller Tod durch eine Kugel oder einen Schwertstreich.
    »Wo ist Tifei?« fragte Chang und rührte sich nicht vom Baum.
    »Du kennst noch seinen Namen? Tifei hat in Kunming ein Fuhrunternehmen. Es geht ihm gut, sehr gut – fast ist er ein Kapitalist. Und alles ohne die Protektion der Partei.«
    »Ja, so was ist heute möglich. Wie die Zeit sich ändert! Und Lida?«
    »Sie macht mir Kummer, Chang. Kein Mann ist für sie gut genug. Ich weiß nicht, auf wen oder was sie wartet. Ihr Wasserbüffel ist ihr wichtiger als jeder fleißige Jüngling.«
    »Sie wird weglaufen, wenn sie mich sieht«, sagte Chang. »Und Jinvan wird den Reis anbrennen lassen. Aber ich mußte hierher kommen, ich mußte es einfach, es war wie ein Zwang, der mit den Jahren in mir wuchs. Verstehst du das?«
    »Ja, ich verstehe es.« Huang sagte es, obgleich er es nicht verstand. Aber da fiel ihm einer jener Sprüche ein, die er gelehrt hatte: Es gibt nur zwei gute Menschen – der eine ist gestorben und der andere noch nicht geboren. Was dazwischen liegt, das ganze Leben, ist ein Auf und Ab von Höhen und Tiefen, von Taten und Untaten, und so sind wir im Grunde alle gleich, nur jeder auf seine eigene

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