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Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Hunderte und Tausende von Menschen – ersetze sie durch Bagger, Kräne und Raupenplanierer, und wo früher Hunderte gegraben haben, tut das jetzt eine Maschine, auf der ein Mann sitzt. Wohin mit den Hunderten? Wohin mit den drei- oder vierhundert Millionen Arbeitslosen, wenn Maschinen die Menschen ersetzen? Vierhundert Millionen Arbeitslose, kannst du dir das vorstellen? Wenn alle Meere über die Ufer träten und die Länder überschwemmten, wäre das nur eine kleine Katastrophe gegen die Gewalt und die Zerstörung, die Chinas ›freie Menschen‹ über die Welt brächten. Ich bewundere Deng Xiaoping, daß er China nach Westen öffnet, ohne China dem Westen auszuliefern. Aber wer, weit hinten in Europa oder den USA, versteht das schon?«
    »Japan macht es uns vor.«
    »Mit hundertvierzig Millionen Einwohnern, aber nicht mit über einer Milliarde! Das ist ja das Ärgerliche: Niemand begreift, was eine Milliarde Menschen bedeuten. Wir sind ein Fünftel der gesamten Menschheit!« Tong zerteilte sein Dampfbrötchen in weiße, klebrige Stückchen. Die Erregung bebte in ihm, und er begriff nicht, wie Zhang so ruhig bleiben konnte und als so weiser Mann im Wahn einer sinnlosen Zukunft gefangen blieb. »Auch mein Sohn Jian begreift es nicht«, fügte Tong voll Bitternis hinzu. »Er, der Chinese, begreift nicht, daß China anders ist als die übrige Welt. Weißt du einen Rat?«
    »Nein«, sagte Zhang.
    »Wir stehen vor schweren Zeiten, Shufang.« Tong legte seine Eßstäbchen weg, der Hunger wurde von seinen Sorgen vertrieben. »Und ich habe Angst. Mein Sohn ist wie gärender Wein, ich kann ihn nicht mehr aufhalten. Noch ist die Universität von Kunming ruhig, aber das, was die Jugend Freiheit nennt, frißt sich wie ein ätzendes Gift durch alles. Es wird auch uns erreichen, und dann werde ich einen Sohn haben, der seinen Vater bekämpft.«
    Zhang schüttelte den Kopf und dachte an Jian und Lida und Huang Keli, an die Tradition der Tongs und den unvermeidlichen Zusammenprall dieser kleinen, so unwichtigen Gegensätze. »Ich glaube, Jian beschäftigt sich mit anderen Problemen«, sagte er.
    »Mit welchen?« Tongs Kopf zuckte hoch. »Er hat also doch Probleme? Was weißt du, Shufang?«
    »Jian will der Beste seines Semesters sein, immer der Beste.« Die Lüge tat Zhang nicht weh; sie war ein Schutzschild für Jian, und einem Menschen Schutz zu geben ist keine Unehre. »Er will ein guter Arzt werden und der Familie Tong noch mehr Glanz verschaffen. Und er wird es erreichen, Shijun; er hat den gleichen Dickschädel wie du, einen Schädel, mit dem man Mauern aufbrechen kann.«
    »Das ist Vergangenheit.« Tong winkte müde ab. »Ich bin ein alter Mann, der Sehnsucht nach Ruhe hat.«
    »Du bist erst fünfundfünfzig Jahre alt.«
    »Aber müde, sehr müde. Verstehst du, daß Jian meine ganze Hoffnung ist? Ein Vater lebt in seinem Sohn weiter – werde ich weiterleben?«
    Zhang blickte auf seine Reisschale, und es kam ihm die erschreckende Erkenntnis, daß es nie einen gemeinsamen Weg für die Familien Tong und Huang geben konnte, so wie Sonne und Mond zwei getrennte Gestirne sind, die nie zusammenkommen. »Ich verstehe dich, Shijun«, sagte er und spürte, wie schwer seine Zunge bei diesen Worten war. »Was bleibt uns, als uns vor dem Schicksal zu beugen? Der Weise ist frei von Zweifeln, der Gütige ist frei von Kummer, der Tapfere ist frei von Furcht. Laß uns tapfer sein, Shijun!«
    In der Morgendämmerung fuhren Lida und Jian nach Lijiang davon. Jinvan hatte ihnen noch Mandarinen, Äpfel, Pfirsiche, große gelbe Pflaumen und goldgelbe Grapefruits mitgegeben, natürlich fehlte die Thermoskanne mit heißem Wasser und ein Kästchen mit grünem Tee nicht, und Huang hängte seiner Tochter ein aus reinem Silber getriebenes Amulett um, das einen Reiher im schwerelosen Flug zeigte. Daneben standen die Worte: ›Sei wie ein Vogel, dem der Himmel gehört‹, und Huang sagte, als er Lida das Amulett an einer silbernen Kette um den Hals hängte: »Möge es dir ein Schutz sein, meine Tochter. Schon deine Urgroßmutter hat es getragen, und sie war ein glücklicher Mensch, so schwer auch ihr Leben gewesen ist. Nimm es nie von deinem Hals, denn es soll deine Seele wärmen.«
    »Ich werde es nie ablegen, Vater«, antwortete Lida.
    Als der Wagen den Weg zur Schule verlassen hatte und in die Straße am Fluß abgebogen war, tastete Huang nach Jinvans Hand und hielt sie fest.
    Jinvan spürte sein leises Zittern und strich mit dem Daumen über seinen

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