Der Jade-Pavillon
das für eine Last, die ihn so niederdrückt?«
Meizhu nagte nervös an ihrer Unterlippe, und dann sprach sie zum ersten Mal aus, woran sie die ganze Zeit gedacht hatte: »Wenn ein junger Mann sich so verändert wie Jian, ist meistens ein Mädchen der Grund.«
»Ein Mädchen?« Tongs Kopf zuckte hoch. Er dachte an Jians Weigerung, die für ihn ausgesuchte Yanmei zu heiraten, und an den Streit, den sie ihretwegen gehabt hatten. »Ein Mädchen in Dali? Davon hat Zhang mir nichts berichtet, und es ist unmöglich, daß er nichts davon wissen sollte, wenn es wirklich solch ein Mädchen gibt.« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »An alles habe ich gedacht, nur nicht daran. Ein Mädchen!«
»Es ist nur eine Vermutung, Shijun«, versuchte Meizhu ihn zu beruhigen. »Eine Mutter hat ein besonderes Gespür. Ich kann mich auch getäuscht haben.«
»Ich werde mit ihm reden.«
»Denkst du, daß er dir die Wahrheit sagen wird?«
»Mein Sohn belügt mich nicht. Er wirft nicht seine Ehre eines Frauenrockes wegen fort.«
»Und wenn es wirklich ein Mädchen ist?«
»Dann ist es seine Pflicht, sie der Familie vorzustellen.«
»Es kann ja nur ein flüchtiges Abenteuer sein.«
»Ein Tong hat seine Ehre zu verlieren.«
»Shijun, die Tongs gab es schon vor tausend Jahren, und deine Vorfahren haben ihre Konkubinen gehabt. Ein Mann war kein Mann ohne Konkubinen.«
»In den Jahrhunderten hat sich viel verändert.« Tong sah seine Frau streng an. »Habe ich eine Konkubine?«
»Nein. Du bist eine Festung der Moral. Aber warum sollte Jian nicht anders denken? Die Jugend heute – «
»Er kann in ein Bordell gehen, wenn er sexuelle Bedürfnisse verspürt.«
»Shijun, was sagst du da?« Meizhu war entsetzt. »Das wäre nie ein Ort, wo Jian hinginge.«
»Ich sähe es lieber, er nähme sich für dreißig Yuan eine Hure, als in Dali ein Mädchen ins Unglück zu stürzen, ein Mädchen, das er nie heiraten kann. Er wird Yanmei zur Frau nehmen.«
»Du weißt, er weigert sich, Yanmei auch nur zu sehen.«
»Er wird sich der Tradition beugen müssen. Es bleibt ihm noch Zeit genug, sich daran zu gewöhnen.«
Für Tong war das Thema damit beendet. Er legte sich nach dem späten Essen zum Schlafen nieder, aber seine innere Erregung verjagte die Müdigkeit. Meizhu schlief unruhig an seiner Seite, drehte sich hin und her, und er erinnerte sich, wie es bei ihnen gewesen war, als sein und ihr Vater sich einigten, daß Meizhu und Shijun ein Paar werden sollten, und wie er zum ersten Mal seiner Braut gegenüberstand, schüchtern, aber gehorsam. Er war mit der Wahl seines Vaters zufrieden, denn Meizhu war ein schönes Mädchen aus bester Familie, in jahrhundertealter Tradition erzogen, und als sie einander ansahen, wußten sie, daß sie sich lieben würden, auch ohne den väterlichen Zwang.
Warum sollte es bei Jian und Yanmei anders sein?
Lassen wir die Zeit wirken, dachte Tong. Er drehte sich zu Meizhu um, betrachtete ihr schmales, noch immer schönes Gesicht, beugte sich über sie und küßte ihre im Schlaf zitternden Lider. Dann legte er sich zurück, aber der Schlaf wollte noch immer nicht kommen.
Als er endlich in einen Traum fiel, der ihm Jian in der Rüstung eines mittelalterlichen Kriegers im Kampf mit einem gehörnten Drachen zeigte, dämmerte bereits der Morgen. Aber das innere Bild verdunkelte sich plötzlich, und Tong erfuhr zu seiner Bestürzung nicht mehr, ob der Drache oder Jian als Sieger aus dem Kampf hervorging.
Huang Keli wartete ungeduldig auf Lidas Rückkehr, und als endlich Jians Auto unten auf der Straße erschien und den Hügel herauffuhr, wurde Huangs Herz schwer, denn er bildete sich ein, in Lidas Augen zu lesen, daß sie ihre Jungfräulichkeit verloren hatte. Auch Jinvan erschien an der Tür, als sie den Motor hörte, aber sie überließ es Huang, an den Wagen zu gehen und die Heimkehrer zu begrüßen.
Lida stieg aus, den Jade-Pavillon im Arm, und ihre Augen strahlten in einem Glanz, der Huang tief in die Seele schnitt. Einen solchen Blick hatte nur eine glückliche Frau, und er brauchte nicht mehr zu rätseln, welches Geheimnis Lida in ihrem Herzen verschloß. Er umarmte sie und umarmte auch Jian, der nun, auch wenn es keiner aussprach, zur Familie gehörte. Dann überreichte er ihm zur Begrüßung eine Schale mit Schnaps, die Jinvan aus dem Haus geholt hatte.
»Mein Sohn«, sagte Huang feierlich, als Jian aus der Schale getrunken hatte, »sei willkommen in meinem und deinem Haus. Es ist doch
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