Der Jadereiter
sitze ich geduldig in dem kleinen Wartezimmer, während Männer, Frauen und Transsexuelle zwischen achtzehn und dreißig sich Blut abnehmen lassen oder die Ergebnisse der Proben vom Vortag abholen. Die meisten der Anwesenden sind Frauen. Der Ausdruck ihrer Gesichter ist leicht zu lesen: Nur wenige von ihnen sind im vergangenen Monat das Risiko eingegangen, dem Wunsch eines Kunden nachzugeben, der kein Kondom benutzen wollte (so viele farangs beklagen sich, daß ein Pariser ihnen die schönste Erektion zunichte macht). Die meisten Mädchen sind fröhlich, weil sie glauben, ausreichende Vorkehrungen getroffen zu haben: Präservative, Kaltwasserduschen vorher und nachher, Listerine-Mundwasser.
Das HI-Virus fängt man sich nicht so schnell ein, und die meisten Mädchen sind Hygienefanatiker, jetzt, wo die Behörden ihnen erklärt haben, wie es zur Ansteckung kommt. Vor zehn Jahren, als der junge Ussiri Thanya Fotos von seinen sterbenden Freunden machte und in seinem Wohnloch auf den eigenen Tod wartete, war das natürlich noch anders. Damals schien es, als suchte die geheimnisvolle Krankheit besonders Thailand heim – Nong und ich waren oft bei Freunden in Sterbekliniken für die Armen, die wie viktorianische Irrenanstalten aussehen. Vielleicht sind wir dort Fatima begegnet, ohne es zu wissen?
Die Klinik wird von einem energiegeladenen, mit einem weißen Kittel bekleideten Thai-Mann mittleren Alters geleitet. Wer jeden Tag mit Prostituierten zu tun hat, lernt unweigerlich »Nuttencharme«, eine besondere Art des Umgangs mit den Mädchen, die ihre Neigung zur Gereiztheit neutralisiert und ihnen das Gefühl gibt, jemand zu sein. Der Arzt beherrscht diese Kunst meisterlich, was zweifelsohne den Erfolg seiner Klinik erklärt (es ist bekannt, daß er sich schon mal in Naturalien bezahlen läßt, wenn ein Mädchen einen schlechten Monat hat). Er fragt sie in ernstem Ton, voller Respekt, wann sie das letzte Mal »gearbeitet« haben, rät ihnen, ihr Kapital nicht auszubeuten, was sie zum Kichern bringt, nimmt ihnen zum tausendsten Mal das Versprechen ab, immer ein Kondom zu benutzen, verkauft ihnen Listerine und die Pille und gratuliert ihnen zum Ergebnis des Tests – »Bis nächsten Monat dann«. Ich warte, bis das Zimmer leer ist, erst dann zücke ich meinen Ausweis und bitte um die Unterlagen von Ussiri Thanya. Zu meinem Erstaunen erkennt er den Namen sofort und dirigiert mich ins Behandlungszimmer, in dem sich eine rote Couch, Packungen mit Spritzen, Reagenzgläser und Jiffy-Tüten befinden. In einer Ecke steht ein großer Kühlschrank.
»Er lebt noch?«
»Überrascht Sie das?«
Nachdenkliches Schweigen, dann: »Nicht wirklich. Auch vor zehn Jahren sind die meisten nicht gestorben, obwohl alle in dem Gewerbe damit rechneten. Er hat eine richtige Phobie entwickelt – das war damals eine verbreitete Reaktion. Eine Weile ist er einmal wöchentlich zur Untersuchung erschienen. Ich habe ihm gesagt: ›Es dauert, bis die Krankheit manifest wird, Sie können genausogut einmal im Monat kommen.‹ Aber er hatte panische Angst. Manchmal hatte ich das Gefühl, er wollte angesteckt werden, weil er diese ständige Anspannung nicht mehr ertrug.
Die Stricher hat’s noch schlimmer getroffen als die Mädchen. Heutzutage erwischt’s die echten Profis kaum noch – es sind eher die Amateure, die Wochenendnutten, die sich nicht schützen und sich anstecken. AIDS hat unsere Volksgesundheit sehr positiv beeinflußt. Hier gibt es kaum noch Syphilis oder Tripper, auch Herpes ist im Rückzug. Und natürlich halten sich alle an den monatlichen Untersuchungsplan.«
»Seine Tests waren immer negativ?«
»Ja. Wie gesagt: Er hatte panische Angst. Einmal hat er mir erzählt, er hätte die Hälfte seiner Kunden verloren, weil er so besessen war von der Krankheit, daß sie das abtörnte. Er hat Freunde zu mir gebracht, die so verängstigt waren, daß ihnen beim Test jemand die Hand halten mußte. Er war intelligent, hat sich eine Menge Wissen über die Krankheit angeeignet. Am Ende konnte er das Virus und seine Wirkung besser beschreiben als ich.«
»Litt er unter Todessehnsucht?«
Er zuckt mit den Achseln. »Für mich ist das ein westlicher Gedanke. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich des Todes bewußt ist; wir sind entweder davon fasziniert, oder wir wollen uns nicht damit auseinandersetzen. Wenn er tatsächlich Todessehnsucht gehabt hätte, wäre er jetzt wohl tot, oder? Wenn ein Stricher in Bangkok sterben will, ist das nicht
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