Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
des toten Kaplans und die Dokumente befanden. »Wieder etwas, das Ihr mir ersparen wolltet.«
Sie überholten die meisten Pilger, die sich, je nach Laune, an den Rand der Straße drückten und sie passieren ließen oder sie dazu zwangen, durch den Feldrain zu galoppieren. Allen gemeinsam war ihnen, daß sie ihnen die Fäuste nachschüttelten und von dem hoch aufgewirbelten Staub der Pferdehufe wütend husteten. Einmal sah Philipp in weiter Entfernung eine kleine Gruppe Berittener durch die Felder preschen und fragte sich, ob er es ihnen nachtun sollte, aber die Verhältnisse abseits der Straße waren ihm unbekannt, und er beschloß, auf ihr zu bleiben. Sie kamen mit befriedigender Geschwindigkeit voran. Erst als sie zu einem Knüppeldamm kamen, der durch einen sich weit nach beiden Seiten erstreckenden Streifen sumpfiger Wiese führte, verlangsamte sich ihr Vorwärtskommen. Eine Masse von Pilgern balancierte vorsichtig über den Damm, und sie mußten warten, bis diese das andere Ufer erreicht hatten. Philipp richtete sich ungeduldig im Sattel auf und spähte, ob das Sumpfland doch irgendwo zu umgehen war. Das verräterisch hohe Gras mit den kümmerlichen Bäumen schien kein Ende zu nehmen – es mußte ein fast verlandeter Bach sein, der das Erdreich auf eine lange Strecke in einen trügerischen, nachgiebigen Schwamm verwandelt hatte. Vielleicht würde ihnen beim Durchqueren nicht mehr geschehen, als daß sie schmutzig wurden, aber sie konnten auch darin steckenbleiben. Während er unschlüssig überlegte und dabei nervös mit einer Faust auf den Oberschenkel trommelte, sagte Aude: »Ich sollte mich verkleiden.«
Philipp fuhr herum.
»Verkleiden?« echote er.
»Als ich nach Köln reiste, verkleidete ich mich als Mann, damit niemand auf dumme Gedanken kam. Es wirkte: Ich wurde nicht belästigt – außer vom Kaplan unseres Dorfes, der sich darüber ereiferte, daß eine Frau in Männerkleidern reiste.«
»Die Kutte«, rief Philipp. »Das ist es. Zieht die Kutte von Kaplan Thomas an. Darin erkennt Euch keiner.«
Aude zögerte nicht lange. Sie lenkte ihr Pferd vom Wegherunter zu einem Gebüsch, das hart am Rand des Sumpfstreifens wuchs.
Philipp sprang aus dem Sattel und folgte ihr.
»Paß hier auf, daß niemand kommt«, sagte er zu Galbert. Dieser nickte ergeben und sank auf dem Rücken seines Maultiers zusammen.
Das Gebüsch war nur ein paar Schritte von der Straße entfernt.
Philipp wickelte die Kutte aus.
»Ihr müßt Euch ausziehen«, sagte er, »sonst schaut Euer Kleid unten und oben heraus.« Er raffte die Decke, in die die Kutte eingewickelt gewesen war, vom Boden auf und reichte sie ihr. »Die hier könnt Ihr Euch zum Schutz umwickeln.«
»Haltet sie mir«, sagte sie entschlossen. »An mir gibt es nichts zu sehen, was Ihr nicht schon kennt.« Sie trat hinter die Deckung, die Philipp linkisch in die Höhe hielt. Ihr Haar war zerzaust, als sie die Kappe abnahm und zu Boden fallen ließ. Sie hatte noch nicht einmal Gelegenheit, den Witwenschleier anzuziehen , dachte Philipp mit seltsamer Trauer. Während sie die Bänder an ihrem Oberteil bearbeitete, schlüpfte sie unten bereits aus ihren hohen Schuhen. Ihr Gesicht war gefaßt. Philipp sah, daß sie von den ungewohnt langen Aufenthalten in der Sonne Farbe auf Stirn und Wangen bekommen hatte und eine Anzahl Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken aufgeblüht waren. Nach ein paar Sekunden wurde ihm klar, daß dies seit vorgestern der erste Moment war, den sie allein zusammen hatten. Bislang waren jedesmal Galbert oder der Leichnam Minstrels zwischen ihnen gewesen.
»Aude«, sagte er mit belegter Stimme. Sie sah nicht auf, aber sie schien seine Gedanken zu lesen.
»Sagt es nicht«, warnte sie ihn, während sie die Armel abstreifte und zu Boden warf.
»Aude«, wiederholte Philipp.
Sie nestelte verbissen an weiteren Bändern herum, aber dann ließ sie die Arme sinken und sah ihm ins Gesicht. Das halb aufgeschnürte Oberteil mit dem hervorquellenden Hemd und ihre nackten Arme rührten ihn. Ihre Augen waren groß und hell. Plötzlich wünschte er sich, er könnte die Decke fallen lassen und ihr Kleid wieder in Ordnung bringen, das Oberteil zuschnüren, die Ärmel festbinden und ihren Rock glattstreichen. Es war nicht richtig, daß sie in diesem Zustand im Gras stehen mußte.
»Warum mußt du es immer sagen?« flüsterte sie.
»Weil es alles ist, woran ich denken kann, wenn ich an dich denke. Aude, ich liebe dich.«
»Ich weiß«, sagte sie erstickt. Sie
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