Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
Fuß und die zupackenden Wächter hinderten ihn daran. »Ich habe noch eine Idee!« stieß er hastig hervor. Der Mann mit dem Messer warf dem Kardinal einen fragenden Blick zu, und dieser gebot ihm mit einer Handbewegung einzuhalten. »Manchmal tut es weher, den Schmerz zu sehen, der jemand anderem zugefügt wird, stimmt’s?« fragte er Philipp.
»Wir müssen zu Dionisias Kammer hinauf«, erwiderte Philipp müde.
»Versuchst du hier Zeit zu schinden?« fragte der Kardinal scharf. »Deine Buhle wird es vor dir bereuen.«
Philipp schüttelte den Kopf. Sein Herz hämmerte ihm im Hals. Er sah noch immer, wie der Bewaffnete den Dolch gehoben hatte. Einen Augenblick später, und die Klinge hätte sich in Audes Auge gesenkt.
»Nein«, krächzte er. »Nein. Es ist die einzige Idee, die ich habe.«
»Also gut. Wir gehen alle hinauf. Ich werde bis hundert zählen. Wenn du dann nichts gefunden hast, nimmt mein Knecht ihr eines Auge. Bei zweihundert das zweite. Nase, Lippen und Ohren, die dann folgen, sind gar nicht mehr so schlimm.«
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll zu suchen, du Schwein!« schrie Philipp. »Gib mir wenigstens genug Zeit!«
Der Kardinal stand auf und trat dicht vor Aude hin, als wollte er sie aus der Nähe mustern. Er erwiderte nichts auf Philipps Beleidigung. Statt dessen ließ er seine Blicke über Audes Gesicht wandern, ihren Hals hinunter und ungeniert über das Hemd bis zu ihren bloßen Füßen. Als er den Blick wieder hob und ihr in die Augen sah, sagte er: »Schade drum.«
Aude nahm ihre Wut zusammen und spuckte ihm ins Gesicht. Er zuckte zurück, dann wischte er sich mit der Hand über die Wange. Sein Lächeln erstarrte. Er öffnete die Hand und wischte ihr den Speichel bedächtig über Wangen, Nase und Kinn. Zuletzt kniff er sie mit Daumen und Zeigefinger zu beiden Seiten des Mundes, bis ihre Lippen sich schmerzhaft vorstülpten. Dann gewann sein Lächeln wieder seine ursprüngliche Breite zurück. Er trat beiseite und sagte: »Hinauf mit ihnen.«
Aude wurde vorwärtsgeschoben und stolperte die Treppe hoch. Philipp folgte mühsam, jeder Schritt mit seinem verletzten Fuß ein Stich, der ihm bis in den Schädel ging. Als er an Giovanni da Uzzano vorbeikam, sagte dieser laut und deutlich: »Eins.«
Die Treppe hinaufzuklettern war noch schwerer, aber die Erinnerung daran, wie der Kardinal seinen feuchten Handschuh in Audes Gesicht abgewischt hatte, trieb ihnhinauf – das und das Zählen des Kardinals, der im steten Takt seiner mühevollen Schritte weiterzählte. Philipp taumelte durch die Tür zu Dionisias Kammer und sah sich hastig darin um. Die Düsternis war absolut.
»Fünfzehn«, sagte der Kardinal.
»Eine Fackel, zum Teufel. Ich brauche Licht«, brüllte Philipp. Der Kardinal reichte ihm mit liebenswürdiger Verbeugung eine Fackel, die er von unten mitgenommen hatte. »Sechzehn.«
Das Licht sprang über die ungestrichenen Bretterwände und eine Reihe von Stickereien, die an einer Seite daran befestigt waren, über einen farblosen Wandbehang an der Wand, an die das Lager gerückt war, über das breite Lager selbst mit zerschlissenen Decken darauf und über eine wuchtige Truhe unter der Fensteröffnung. Philipp ließ sich neben ihr auf die Knie fallen.
»Zwanzig.«
Die Truhe war nicht abgeschlossen. Philipp riß den Deckel auf. Die Truhe war leer. Erst jetzt sah er die Schmuckstücke und Tücher, die ringsum verstreut waren.
»Einundzwanzig«, sagte der Kardinal. »Wir haben schon hineingesehen.«
»Warum habt Ihr das nicht gesagt?« schrie Philipp.
»Zweiundzwanzig«, erwiderte der Kardinal.
Philipp stolperte auf die Füße. Das Blut begann in seinen Ohren zu rauschen. Er hob die Fackel und drehte sich einmal um sich selbst. Das Licht wanderte über die ausdruckslosen Gesichter der Wächter, die mit ihm hereingekommen waren, über die Miene von Giovanni da Uzzano, der zur Türöffnung hereinspähte, und über Audes Antlitz, die direkt auf der Türschwelle stand, den Dolch eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt.
»O mein Gott«, rief Philipp. »Sie sind verbrannt, glaubt das endlich.«
Von der Fensteröffnung sickerte Dunkelheit herein, sobald er die Fackel in die Nähe eines anderen Gegenstandes brachte. Keines der von ihm beleuchteten Dinge enthüllte die Dokumente. Er fegte die Decken vom Lager und wäre beinahe gestürzt, weil er sich auf den verletzten Fuß stützte. Er erinnerte sich an das, was er sich heute morgen vorgesagt hatte, heute morgen vor hundert
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