Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
den Baumstamm zu springen. Von Raimund war noch immer nichts zu hören. Der Wächter bewegte sich unter der Decke und ließ sie von seinem Kopf zurückfallen und sah sich um. Philipp sprang.
Der Wächter war Aude.
»Schieß!« brüllte Philipp, ohne es noch verhindern zu können, verfing sich mit dem Fuß in einem Ast und fiel krachend vornüber aufs Gesicht.
Er sprang schneller auf, als er gestürzt war. Ein Aststumpf zog eine Furche quer durch sein Gesicht, doch er spürte es nicht. Die in die Decke gehüllte Gestalt vor dem Feuer war Aude gewesen. Er riß die Augen auf. Die Gestalt sank langsam zur Seite, löste sich aus der Decke und starrte ihn an. Er sah den Pfeil in Audes Kehle stecken und wie ihre Augen brachen. Er heulte auf und befreite sich mit einer Explosion von brechenden Ästen, Zweigen und vermoderndem Laub aus dem toten Baum. Undeutlich sah er, wie Raimund zwischen zwei Sträuchern hervorsprang, das Schwert erhoben und den Mund geöffnet. Wenn sein eigenes Heulen nicht in seinen Ohren gegellt hätte, hätte er ihn wild fluchen gehört. Auf der anderen Seite brach der zweite Bewaffnete durch das Gebüsch; Bruno schien fieberhaft einen neuen Bolzen aufzulegen. Philipp sah es alles und sah es nicht. Blut lief in sein eines Auge und verwischte sein Gesichtsfeld. Aude füllte dieses Gesichtsfeld völlig aus, Aude, die jetzt auf dem Boden kauerte, die sich mit letzter Kraft aufrecht hielt. Philipp stolperte auf sie zu und fiel vor ihr auf die Knie. Aude starrte ihn an. Das Blut machte ihn fast blind, und er wischte es beiseite. Er sah denBolzen; er steckte einige Fuß neben Aude im Boden. Er gaffte ihn verständnislos an. Aude krächzte etwas und sah ihm weiterhin mit brennenden Augen ins Gesicht. Er fühlte sich unfähig, auch nur eine Hand zu heben. Ihr Antlitz war zerkratzt und blutverschmiert. Er gab ihren Blick hilflos zurück. Langsam wurde ihm bewußt, daß das Geschoß sie nicht getroffen hatte.
»Aude«, sagte er.
Raimund trat neben ihn. »Die beiden Männer sind tot«, sagte er. »Einem ist die Kehle durchgeschnitten, dem anderen der Schädel eingeschlagen. Drüben unter den Bäumen im Schatten liegt der dritte der Kerle, ebenfalls mit durchschnittener Kehle.« Er beugte sich hinab und nahm Aude genauer in Augenschein. Seine Züge verhärteten sich. »Gottverdammt und alle Heiligen in der Hölle«, sagte er, bevor er sich ab wandte. Er klaubte die Decke auf, in die Aude sich gehüllt hatte, und schüttelte den Staub heraus. Bruno, der mit erleichtertem Gesichtsausdruck seinen fehlgegangenen Bolzen aus dem Boden gezogen hatte, und der zweite Bewaffnete warfen zurechtgelegtes Holz auf das Feuer.
Audes eines Auge war zugeschwollen; über ihre Wange zogen sich Kratzer von Fingernägeln. Ihre Lippen waren aufgeschunden und geschwollen. Ihr Körper war mit Schürfwunden übersät, in einer Brust saßen die zwei rot unterlaufenen Halbmonde eines Bisses. An ihrem gesamten Oberkörper waren Blutspritzer angetrocknet. Um ihre Handgelenke und ihren Hals lagen noch die Lederriemen, mit denen sie gefesselt gewesen waren; die Bänder, die daran hingen, waren durchgeschnitten. Sie war nackt. Das einzige, was sie am Leib trug, waren die Stiefel, die man ihr vor Radolfs Haus gegeben hatte. IhreAugen ruhten weiterhin unverwandt auf Philipp. Raimund breitete die Decke über sie, ohne daß sie darauf reagiert hätte. Schließlich holte sie eine Hand aus der Deckung ihres zusammengekrümmten Körpers hervor. Die Hand war schwarz vor geronnenem Blut bis weit über das Handgelenk hinaus. Sie öffnete die verklebten Finger; ihr kleines Messer rollte heraus und fiel auf den Boden. Raimund kniete neben ihr und zog die Decke um ihre Schultern fest. Philipp wagte sich nicht zu bewegen. Er wußte, er würde auf der Stelle einen Anfall bekommen, wenn er etwas anderes tat, als Audes Blick zu erwidern. Vage war er froh, daß ihre Peiniger tot waren; er fühlte nicht einmal Haß, nur Erleichterung, daß sie nicht mehr lebten. Das Blut in seinen Ohren rauschte und pochte. Aude öffnete den Mund und begann zu sprechen. Philipp stellte fest, daß er kein Wort verstand. Nach einer Weile wurde ihm klar, daß sie in ihrer Muttersprache redete. Sie sprach monoton und ließ kein Auge von ihm, bis ihre Stimme nach einer Weile wieder verstummte. Raimund räusperte sich. In seiner Rechten lag immer noch, wie vergessen, der Griff des Schwertes.
»Albert hat sie vergewaltigt«, sagte er. »Die anderen beiden ließ er nicht an sie
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