Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
Grund, Radolf zu vergeben und hierzubleiben, wenn der Burgherr dies wünschte.
Daß er eingeschlafen war, merkte er erst, als ihn eine zögernde Berührung an der Schulter weckte. Er blinzelte in den unsicheren Lichtschein einer Fackel und das Gesicht eines der Dörfler, das halb von der Fackel beleuchtet wurde.
»Was gibt es denn?« krächzte er mit steifen Lippen.
»Die Herrin hat mir aufgetragen, Euch zu wecken«, sagte der Mann ruhig. »Wir brauchen Eure Hilfe.«
Philipp starrte ihn an; er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu klären, fuhr sich mit den Händen durch die Haare, die danach wild zu Berge standen, und kam endlich auf die Beine. In seinem Mund war ein Geschmack wie Blei.
»Hilfe wobei?« fragte er schließlich und musterte den Mann, der ihn geweckt hatte, mit verkniffenem Gesicht. »Brennt das Haus, oder greifen die Tataren an?«
»Es geht um den Herrn«, sagte der Mann. Philipp seufzte und setzte sich noch immer halb schlaftrunken in Bewegung. Es bedurfte der ersten Schritte, damit sein Gehirn vollends erwachte und damit auch eine gewisse Beunruhigung. Die Worte sickerten in sein Bewußtsein.
»Was ist mit ihm?« fragte er argwöhnisch.
Der Mann preßte die Lippen zusammen und schien nach Worten zu suchen. Philipp packte plötzliche Beklommenheit. In der nächsten Sekunde würde der Mann sagen: Der Herr hat seinem Leben ein Ende gesetzt. Er sah Radolf zusammengekrümmt in einer Lache Blut auf dem Bodender Kapelle liegen, den Knauf und den kleineren Teil der Klinge seines Schwertes aus dem Leib ragend. Er riß die Augen auf und spürte, wie sein Herz einen erschrockenen Sprung tat.
»Ich glaube, er ist sinnlos betrunken«, sagte der Mann. »Verratet ihm nicht, daß ich das gesagt habe.«
»Was redest du da?« stammelte Philipp.
»Er liegt draußen vor dem Eingang zum Haus und ... nun, am besten seht Ihr es Euch selbst an«, erklärte der Mann. Philipp schloß die Augen und holte Atem; so plötzlich, wie er gekommen war, klang der Schreck ab und ließ ihn in einer gewissen Verlegenheit über seine Reaktion zurück.
»Also dann: nach dir«, sagte er und wies auf den Treppenaufgang. »Du hast die Fackel. Leuchte mir hinaus, und wenn du genau aufpaßt, wirst du sehen, wie Philipp der Unerschrockene einen Betrunkenen aufweckt.«
»Oh, er ist wach«, sagte der Mann. »Darum geht es nicht.« Er schritt an Philipp vorbei und stieg die Treppe hinauf, ohne seine Worte näher zu erläutern, und Philipp folgte ihm notgedrungen nach.
»Worum geht es dann?« rief er.
»Ihr werdet es gleich sehen.«
»Was soll diese Geheimniskrämerei? Was tut er denn da draußen, wenn er nicht seinen Rausch ausschläft?«
»Es ist ein wenig schwer zu beschreiben. Bitte wartet ab, bis Ihr es mit eigenen Augen sehen könnt.«
Philipp stapfte verärgert die Treppe hinauf und durchquerte hinter seinem Führer den Saal, in dem ihn Radolf heute abend empfangen hatte. Der Mann führte ihn in den donjon hinaus und die Treppe dort wieder hinunter. Er bewegte sich mit der Sicherheit dessen, der die Örtlichkeit kennt.
»Wer bist du?« fragte ihn Philipp schließlich. »Ich habe dich nicht gesehen, als ich angekommen bin.«
»Ich bin der Pferdeknecht. Normalerweise wäre ich nicht mehr hier, aber Euer Pferd mußte gestriegelt und gefüttert werden, und ich kam heute etwas später als sonst vom Feld zurück; deshalb bin ich noch da.«
»Bist du aus dem Dorf?«
»Natürlich«, sagte der Mann. Sein Tonfall verriet, daß er genau wußte, was Philipp damit gemeint hatte. Er war nicht verlegen; er erklärte leichthin: »Ich habe Euch gesehen, als wir vor Walters Haus standen und darauf warteten, daß die Herrin wieder herauskam.«
»Warum schläfst du nicht hier, wenn du die Pferde des Herrn versorgst?« fragte Philipp. Der Mann antwortete ihm nicht; sie waren am Ende der Treppe angelangt und traten in die kühle Nacht hinaus. Die Fackel erleuchtete einen kleinen Teil des Bodens vor dem donjon und die liegende Gestalt eines Mannes. Philipp sah ihn und wußte, weshalb der Pferdeknecht ihm keine nähere Auskunft über Radolfs Befindlichkeit gegeben hatte. Der Burgherr lag kichernd auf dem Bauch; er war vollkommen nackt.
Philipp starrte ungläubig auf Radolf hinunter. Dieser schien weder ihn noch den Pferdeknecht bemerkt zu haben; er grinste mit halbgeschlossenen Augen und wand sich langsam über den Boden, als versuche er wie eine Schlange auf dem Bauch kriechend vorwärtszukommen. Statt zu Philipp hochzusehen, stierte
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