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Der Janusmann

Der Janusmann

Titel: Der Janusmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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den schwarzen Gummi prasselte.
    »Müssen die Flut nutzen«, meinte er. »Sie läuft bald ab.«
    Ich packte die beiden Enden auf meiner Seite. Dann hievten wir den Leichensack gemeinsam aus dem Kofferraum. Er war nicht schwer, aber sperrig, und Harley besaß wenig Kraft. Wir trugen ihn ein paar Schritte in Richtung Strand.
    »Setz ihn ab«, sagte ich.
    »Warum?«
    »Ich will sie sehen«, erwiderte ich.
    »Das glaub ich eher nicht«, sagte er.
    »Setz ihn ab«, wiederholte ich.
    Er zögerte noch einen Augenblick, dann legten wir den Leichensack auf die Felsen. Ich zog am Anhänger des Reißverschlusses.
    »Am besten siehst du dir nur das Gesicht an«, erklärte Harley. »Das ist nicht so schlimm.«
    Ich sah es mir an. Es war sehr schlimm. Die Frau war unter entsetzlichen Qualen gestorben. Das war eindeutig. Ihr Gesicht war von Schmerzen verzerrt.
    Aber es war nicht Teresa Daniel.
    Es war Becks Dienstmädchen.

9
     
    Ich zog den Reißverschluss noch etwas weiter auf, bis ich die gleiche Verstümmelung sah, die ich vor zehn Jahren schon einmal gesehen hatte. Dann wandte ich mein Gesicht dem Regen zu und schloss die Augen. Das Wasser auf meinem Gesicht fühlte sich wie Tränen an.
    »Bringen wir’s hinter uns«, sagte Harley.
    Ich öffnete die Augen. Starrte das aufgewühlte Meer an. Zog den Reißverschluss hoch, ohne noch einen Blick auf die Tote zu werfen. Stand langsam auf. Harley wartete. Wir packten beide unsere Enden und hoben den Sack an. Schleppten ihn über die Felsen. Er führte mich nach Südosten zu einer weit entfernten Stelle am Strand, wo sich zwei Granitplatten trafen. Zwischen ihnen klaffte eine V-förmige Spalte.
    »Warte bis nach der nächsten großen Welle«, sagte Harley.
    Sie brach donnernd herein, und zum Schutz vor der Gischt zogen wir die Köpfe ein. Die Spalte lief voll, und das überschüssige Wasser schwappte über die Felsplatten und erreichte fast unsere Füße. Dann lief es wieder ab, und die Spalte leerte sich.
    »Okay, absetzen«, befahl Harley. Er war außer Atem. »Halt dein Ende fest.«
    Wir legten den Leichensack so ab, dass das Kopfende über den Fels hinaus in die Spalte ragte. Der Reißverschluss befand sich auf der Oberseite. Die Tote lag auf dem Rücken. Ich hielt die beiden Enden am Fußende fest. Harley stellte sich über den Sack, ging in die Hocke und zog das Kopfende weiter über die Spalte hinaus. Ich folgte ihm bei jedem Ruck und machte auf dem glitschigen Fels vorsichtige kleine Schritte. Die nächste Woge kam herein und schwappte unter dem Gummisack hinduch. Sie ließ ihn etwas aufschwimmen. Harley nutzte diese Gelegenheit, um den Sack noch etwas weiter hinauszuschieben. Ich folgte ihm. Die Flut wich zurück. Die Spalte leerte sich erneut. Der Regen prasselte auf den schwarzen Gummi, trommelte auf unsere Rücken. Es war schrecklich kalt.
    Harley nutzte die folgenden fünf Wellen, um den Leichensack noch weiter nach vorn zu schieben, bis er fast ganz in der Spalte hing. Ich hielt nur noch den leeren Fußteil in den Händen. Die Tote war in den vorderen Teil gerutscht. Harley wartete, beobachtete das Meer und griff dann tief hinunter, um den Reißverschluss ganz aufzuziehen. Kam dann zurückgehastet und packte eine der beiden Ecken, die ich festgehalten hatte. Die siebte Woge donnerte an den Strand und durchnässte uns bis auf die Haut. Die Felsspalte füllte sich, und als die Flut zurückwich, saugte sie die Leiche regelrecht aus dem Gummisack. Sie schwamm noch einen Augenblick bewegungslos unter uns, bevor sie von der Unterströmung mit- und in die Tiefe gerissen wurde. Ich sah langes blondes Haar, das im Wasser trieb, und blasse Haut mit grauen und grünen Schatten. Dann war sie verschwunden. Das aus der Spalte ablaufende Wasser schäumte rot.
    »Verdammt starke Strömung hier«, meinte Harley.
    Ich schwieg.
    »Die Unterströmung reißt sie weit mit«, erklärte er. »Jedenfalls ist noch keine wieder aufgetaucht. Zieht sie ein bis zwei Meilen raus und dabei immer tiefer. Und dort draußen gibt’s Haie, glaub ich. Und alle möglichen anderen Viecher. Du weißt schon, Krabben, Muränen, solches Zeug.«
    Ich schwieg.
    »Bisher ist noch keine wieder aufgetaucht«, sagte er noch einmal.
    Ich sah ihm ins Gesicht, und er lachte mich an. Sein Mund war ein gähnendes Loch. Die wenigen Zähne, die er besaß, waren faulige gelbe Stummel. Ich wandte den Blick ab. Die nächste Woge kam herein. Sie war viel kleiner, doch als sie ablief, ließ sie die Felsspalte sauber gewaschen

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