Der jüdische Krieg.
um das Vaterland zu retten. Aber Vespasian tue nichts, sage kein Wort, rühre sich nicht. In Italien wäre sie bestimmt gegen dieses sonderbare Phlegma aufgekommen; aber in diesem verfluchten, unheimlichen Judäa finde sich ja kein Mensch zurecht. Sie bitte Mucian dringend, die Römerin den Römer, er möge auf seine gescheite und energische Art den Vespasian aufrütteln.
Dieser Brief wurde Ende Mai geschrieben. Anfang Juni kam Mucian nach Cäsarea. Auch er nahm sogleich die Veränderung des Marschalls wahr. Mit einem neidischen, betretenen Respekt sah er, wie dieser Mann größer wurde, je näher die großen Dinge an ihn herankamen. Nicht ohne Bewunderung machte er sich lustig über seine Festigkeit, Schwere, Breite. »Sie haben Philosophie, mein Freund«, sagte er. »Aber ich bitte Sie dringend, philosophieren Sie nicht zu lange.« Er stieß mit seinem Stock gegen einen unsichtbaren Gegner.
Es lockte ihn, die dreiste Ruhe des Marschalls durch Quertreibereien zu stören. Die alte Eifersucht nagte ihn. Aber nun war es zu spät. Jetzt schwor die Armee auf den andern, jetzt konnte er nur mehr im Schatten des andern marschieren. Er erkannte das, bezwang sich, förderte den andern. Sorgte, daß die Gerüchte über den Austausch der syrischen und judäischen Truppen gegen westliche sich verdichteten. Schon wurden bestimmte Termine genannt. Anfang Juli sollten die Legionen in Marsch gesetzt werden.
Um die Mitte des Juni stellte sich Agrippa bei Vespasian ein. Er war wieder in Alexandrien gewesen bei seinem Freunde und Verwandten Tiber Alexander. Der ganze Osten, erklärte er dem Marschall, lehne sich auf gegen Vitell. Bestürzt über die wüsten Nachrichten aus Rom, warte Ägypten und beide Asien in wilder, sehnlicher Spannung, daß der gottbegnadete Retter sich endlich ans Werk mache. Vespasian erwiderte nichts, schaute Agrippa an, schwieg beharrlich. Da sprach Agrippa, ungewohnt energisch, weiter: es gebe Männer, die des festen Willens seien, die göttliche Absicht zu fördern. Soviel er wisse, sei der ägyptische Generalgouverneur Tiber Alexander entschlossen, seine Truppen am 1. Juli auf Vespasian zu vereidigen.
Vespasian bezwang sich, aber er konnte nicht verhindern, daß sein Schnaufen beängstigend hart und hastig wurde. Er ging ein paarmal auf und ab; schließlich sagte er, aber es klang eher wie ein Dank als wie eine Drohung: »Hören Sie, König Agrippa, ich würde dann Ihren Verwandten Tiber Alexander als Hochverräter betrachten müssen.« Er ging ganz nah an den König heran, legte ihm beide Hände auf die Schultern, blies ihm seinen harten Atem ins Gesicht, sagte ungewohnt herzlich: »Es tut mir leid, König Agrippa, daß ich Sie gehänselt habe, weil Sie die Fische aus dem See Genezareth nicht aßen.« Agrippa sagte: »Bitte, zählen Sie auf uns, Kaiser Vespasian, auf unser ganzes Herz und unser ganzes Vermögen.«
Der Juli rückte vor. Überall im Osten kamen Gerüchte auf, Kaiser Otho habe, unmittelbar bevor er sich den Tod gab, Vespasian in einem Schreiben beschworen, seine Nachfolge anzutreten, das Reich zu retten. Eines Tages fand Vespasian diesen Brief auch wirklich in seinem Einlauf. Der tote Otho richtete große, dringliche Worte an den Feldherrn des Ostens, er solle ihn an dem Schlemmer Vitell rächen, solle Ordnung schaffen, Rom nicht versinken lassen. Vespasian las das Schreiben aufmerksam. Er sagte seinem Sohne Titus, er sei wirklich ein großer Künstler; man müsse geradezu Angst haben vor seiner Kunst. Er fürchte, eines Morgens werde er aufwachen und ein Dokument vorfinden, in welchem er den Titus zum Kaiser ernannt habe.
Die vierte Juniwoche kam. Die Spannung wurde unerträglich. Cänis, Titus, Mucian, Agrippa, Berenike, alle verloren die Nerven, zerrten ungestüm an Vespasian, er möge sich endlich erklären. Der schwere Mann war nicht von der Stelle zu bringen. Er gab ausweichende Antworten, schmunzelte, machte Witze, wartete.
In der Nacht vom 27. zum 28. Juni berief Vespasian in großer Heimlichkeit den Jochanan Ben Sakkai zu sich. »Sie sind ein sehr gelehrter Herr«, sagte er. »Ich bitte Sie, mich noch weiter über das Wesen Ihres Volkes und Ihres Glaubens zu unterrichten. Gibt es bei euch ein Grundgesetz, eine Goldene Regel, auf die man eure unheimlich zahlreichen Gebote zurückführen kann?« Der Großdoktor wiegte den Kopf, schloß die Augen, erzählte: »Vor hundert Jahren gab es unter uns zwei weitberühmte Doktoren, Schammai und Hillel. Ein
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