- Der Jünger des Teufels
Belastung
für den Jünger darstellen musste. Die brennenden Fragen, in welchem Zustand die
Leichen waren und ob er Spuren zurückgelassen hatte, müssten seine Unruhe und
Neugier wecken und uns helfen, ihn zu schnappen. Wir hofften sogar, er würde am
Friedhof vorbeifahren oder ihn gar aufsuchen, um die Exhumierung mit eigenen
Augen zu verfolgen. Es war nicht ungewöhnlich, dass Killer die Gräber ihrer
Opfer aufsuchten, und die Zeitungsberichte über eine Exhumierung übten
möglicherweise einen so starken Druck auf ihn aus, dass er seiner Neugier
nachgab. Daher beschlossen wir, jeden zu fotografieren und auf Video
aufzunehmen, der auf dem Friedhof oder in der Nähe auftauchte.
Am Tag der Exhumierung überwachte ich mit Unterstützung von
mehr als drei Dutzend Undercover-Agenten die Gegend um das Grab. Die gesamte
Überwachung dauerte vier Tage, doch die Videoaufnahmen und Fotos brachten keine
neuen Erkenntnisse. Der Jünger war nicht in unsere Falle getappt.
Und als er das nächste Mal zuschlug, ermordete er David und
Megan. Der Schuss war nach hinten losgegangen und hatte den beiden Menschen,
die ich am meisten liebte, das Leben gekostet. Der Jünger musste herausgefunden
haben, wo ich wohnte, und hatte mich offenbar eine Zeit lang beobachtet, ehe er
David und Megan als seine nächsten Opfer auswählte. Er war in meine
Privatsphäre eingedrungen, und dieser Gedanke erschütterte mich bis auf den
Grund meiner Seele. Es war seine Art, mir zu sagen: Du hältst dich
vielleicht für schlau, aber ich bin cleverer als du. Da mals glaubte ich
es tatsächlich. Nicht ihn hatte ihn gejagt, sondern er mich.
Warum hatte ich ihn nicht bemerkt? Warum hatte ich nicht gespürt,
dass ich beobachtet wurde? Er war um mein Haus geschlichen und war mir
vermutlich gefolgt, so wie er David und Megan gefolgt sein musste, ehe er
zuschlug.
Nach dem Tod der beiden besorgte ich mir eine
Ersatzpistole, die ich immer bei mir führte. Nachts versteckte ich sie unter
meinem Bett im Halfter, den ich mit einer Schnur am Metallrahmen befestigte. Es
war eine »Lady« -Glock, eine kleinere 9 mm-Ver sion meiner größeren Dienstwaffe, und ich brauchte nur den Druckknopf
zu öffnen, um sie aus dem Halfter zu ziehen.
Ich wünschte mir, der Jünger würde wieder in mein
Haus eindringen, und ich hoffte, er würde es in einer dunklen Nacht versuchen,
damit ich diese Bestie in Notwehr abknallen konnte. Mir blutete noch immer das
Herz. Im Grunde hatte sich nichts geändert. Ich vermisste David und Megan, dass
es mir beinahe das Herz zerriss.
Seit ihrem Tod stellte ich mir immer wieder dieselbe Frage:
Hätte ich sie retten können, wenn ich auf der Rückfahrt von Philadelphia nicht
so müde gewesen wäre und am Straßenrand geschlafen hätte?
Nun aber quälte mich noch ein anderer Gedanke: Hatte Gemal
vielleicht doch die Wahrheit gesagt, und ein anderer hatte David und
Megan getötet? War es möglich, dass ich mich unnötigerweise mit Schuldgefühlen
belastet hatte? Schließlich verdrängte ich diesen absurden Gedanken. Gemal musste der Killer gewesen sein.
Um kurz nach zwei Uhr betrat ich zum ersten Mal seit sechs Monaten
das Atelier. Meine Putzfrau, die zweimal die Woche im Cottage sauber machte,
staubte auch im Atelier ab. Hier sah es noch genauso aus wie nach Davids und
Megans Tod: eine unvollendete Leinwand auf der Staffelei, ein Bild der Ruinen
von Manor Lodge. Der Raum war kalt und leblos. Ich schaute auf die fertigen und
unfertigen Gemälde, auf die Farben und vertrockneten Pinsel, auf die
Farbkleckse am Boden. Vor allem schaute ich auf einen dunkelroten Fleck, der
fast wie Blut aussah und mich stets aufs Neue verwirrte.
Zum ersten Mal seit einem Jahr berührte ich Davids
unvollendetes Gemälde von Manor Lodge, strich mit der Hand darüber, fühlte die
harten Kanten der Farbe und die weiche Leinwand. Ich drehte mich zum
Schreibtisch um, auf dem noch immer Davids Papiere lagen. Ich strich mit den
Fingern über die unordentlichen Stapel und übers Telefon. Ich erinnerte mich, dass
David mich manchmal über den Hausanschluss im Cottage anrief, um mir zu sagen,
dass er wieder ein neues Bild vollendet habe und dass ich es mir ansehen solle.
Seine aufgeregte Stimme klang dann wie die eines kleinen Jungen.
Der Raum weckte so lebhafte Erinnerungen, dass ich sie bald
nicht mehr ertragen konnte. Ich schlug den Mantelkragen hoch, schloss das
Atelier ab und ging über den Kiesweg zurück zum Haus. In meinem Schlafzimmer im
ersten Stock zog ich mich aus,
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