Der Jünger
er da sah, und doch stand es dort schwarz auf weiß: Walter Leopold Lazarus, siebenundachtzig Jahre, Ehemann von Etta, Vater eines Sohnes und einer Tochter, sechs Enkelkinder, jüngst beerdigt auf dem Perpetual Care Cemetery. Seine Gedanken überschlugen sich. Lazarus. Das konnte kein Zufall sein. Als er auf die Zeitung blickte und bemerkte, dass sie drei Tage alt war, geriet er in Panik. Lazarus war am dritten Tage nach seiner Beisetzung auferstanden, so wie Jesus Christus selbst drei Tage nach seiner Kreuzigung wiedergekehrt war. Wenn er diesem folgen sollte, dann hatte er keine Zeit zu vergeuden.
Er setzte sich auf die Kante des Rücksitzes und las den Nachruf wieder und wieder, bis er sich alle Einzelheiten eingeprägt hatte. Vor zwei Tagen hatte er Philippus in seine Jüngerschar gebracht, gestern den zweiten Simon. Nun, wo nur noch zwei Jünger fehlten, sollte er diese zuerst suchen oder Lazarus zu den Lebenden zurückholen?
Ein plötzlicher Windstoß zerrte an den Ecken der Zeitung, die er in der Hand hielt. Jay erkannte darin ein Zeichen Gottes. Schnell beendete er seine Reinigungsaktion im Wagen, holte die Stadtkarte heraus und suchte den Perpetual Care Friedhof heraus. Bevor es dunkel wurde und damit Zeit für die Auferstehung des Lazarus, mussten einige Dinge erledigt werden.
Früh am Morgen, um 6:04 Uhr, erreichte Ben ein Anruf. Dabei erfuhr er von einer Leiche auf einer Parkbank, nicht weit entfernt von dem Denkmal für die Krankenschwestern, die in Vietnam gedient hatten. Sie mussten ihren Wagen auf dem Parkplatz neben dem Lincoln-Denkmal abstellen und über die Wiese zu dem Ort hinüberlaufen, an dem der Tote gefunden worden war.
Der Anblick war mehr als bizarr.
Als sie dort ankamen, fanden sie einen sehr gut gekleideten toten Mann aufrecht auf der Bank sitzend vor. Der Tote trug einen italienischen Anzug und Gucci-Schuhe und war mit einem Seil an den Sitz gebunden wie eine Marionette.
Ben erblickte die Polizeiärztin Fran Morrow, die vor dem Leichnam hockte und in sein Gesicht starrte.
“Hallo, Fran, was können Sie uns sagen?”, begrüßte sie Rick.
“Er ist tot”, erwiderte sie lässig und starrte weiter bewegungslos auf das Gesicht des Toten.
Irgendetwas erschien Ben an ihrem Verhalten merkwürdig. Er hockte sich neben sie. “Was sehen Sie?”, fragte er.
Sie zeigte auf das Gesicht des Mannes. “Er hat Make-up aufgelegt.”
Ben zuckte mit den Schultern. “Also ist er vielleicht ein Transvestit?”
“Im Kleid, ja, aber nicht im Anzug.”
“Also, was denken Sie?”
“Das war kein Mord.”
Ben runzelte die Stirn. “Aber er ist tot.”
“Es gibt keine sichtbare Wunde”, entgegnete sie.
“Vielleicht hatte er eine Herzattacke”, bemerkte Rick.
“Und dann sitzt er hier an die Bank gefesselt? Erklär mir das mal”, sagte Ben.
“Ich kann es jedenfalls nicht”, sagte Fran. “Aber nachdem ich ihn ins Labor gebracht habe, weiß ich mehr.”
“Irgendwelche Papiere?”, wollte Ben wissen.
“Nichts in den Taschen”, erwiderte Fran. “Aber da ist noch was.”
“Ja?”
“Ich rieche Leichenbalsam.”
Ben starrte sie an.
Rick ließ den Unterkiefer fallen.
“Sie meinen, der Typ war schon beerdigt und ist wieder ausgegraben worden?”
“Ich sage gar nichts”, entgegnete Fran. “Ich meinte nur, dass ich Leichenbalsam rieche.”
Rick sah sich den Toten noch einmal genauer an, dann wandte er sich ab und spuckte aus, als hätte er plötzlich einen schlechten Geschmack im Mund. “Na super, Grabschänder. Was kommt als Nächstes … Zombies?”
“Jemand könnte ihn aus einem Beerdigungsinstitut rausgetragen haben”, sagte Ben.
Fran zuckte mit den Schultern.
“Können Sie uns ein paar Fingerabdrücke machen?”, fragte Rick.
Fran stand auf und nickte. “An Ihrer Stelle würde ich einfach die Todesanzeigen und Beerdigungen der letzten … na, ich würde sagen, vier oder fünf Tage überprüfen. Finden Sie raus, welche Männer über achtzig beerdigt wurden, und überprüfen Sie dann die Friedhöfe. Das leere Grab wird Ihre Lösung sein. In der Zwischenzeit bringen wir ihn ins Leichenschauhaus zurück und bieten ihm einen netten kühlen Tisch zum Ausruhen an, während Sie rausfinden, wo man ihn untergebracht hatte. Glauben Sie mir, er muss so schnell wie möglich dahin zurück.”
January schluckte gerade ihren letzten Bissen Rührei hinunter, als das Telefon klingelte. Mit dem gebrauchten Geschirr auf dem Weg zum Abwaschbecken griff sie nach dem
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