Der Jünger
das Brady Mitchell mit Mutter Mary Theresas Hilfe gezeichnet hatte, eine Kopie des Standbildes aus dem Fernsehbericht vor dem Finanzamt und außerdem die Zeichnung, bei der Brady Mitchell auf ihren Vorschlag hin den Vollbart und das lange Haar weggelassen hatte.
Es war merkwürdig, aber das Gesicht sah ohne Bart noch viel bedrohlicher aus als mit dem langen ungepflegten Bart. Die Augen des Mannes blickten bedrohlich kalt und einschüchternd. Dieser stechende Blick, der January das Blut in den Adern gefrieren ließ, war ihr vorher durch das viele lange Haar gar nicht so aufgefallen.
Sie glaubte, wenn sie seinen richtigen Namen kennen würde und etwas über seine Vergangenheit herausfände, würde sie ihn verstehen oder seine Handlungsweise nachvollziehen können. Sie wusste, dass die meisten Ärzte den Mangel an Sauerstoff im Gehirn für jede Art von Todeserlebnis verantwortlich machten. Halluzinationen, verursacht durch Sauerstoffmangel. Sie selbst hatte zwar eine andere Meinung zu diesem Thema, aber ihr fehlten die Fakten, um eine abweichende Theorie nachhaltig beweisen zu können.
Sie saß da, spielte mit dem Kuli und überlegte, wie sie ihre Idee bezüglich der Untersuchung des Falles möglichst elegant ansprechen könnte. Sie wollte niemandem im Polizeirevier auf die Füße treten, aber dieser Priester musste unbedingt gefasst werden. Der Gedanke, dass er hinter ihr herspionierte und jeden ihrer Schritte beobachtete, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Das war etwas, worüber sie noch heute Abend mit Ben reden musste. Außerdem wollte sie ihm den Vorschlag unterbreiten, die Zeichnungen in den Krankenhäusern zu zeigen. Wenn er auf einem Operationstisch wiederbelebt worden war, bestand die Chance, dass er von den Ärzten und Krankenschwestern wiedererkannt wurde – besonders wenn er erzählt hatte, er sei in der Hölle gewesen.
Sie ging die Gelben Seiten des Telefonbuchs durch, um Namen und Adressen der umliegenden Kliniken aufzuschreiben, als es klingelte. Sie zuckte bei dem Geräusch zusammen, dann blickte sie auf die Uhr und erschrak. Das musste Ben sein! Und sie saß hier immer noch ohne Schuhe herum.
Sie warf den Kuli auf den Tisch und unterdrückte ein Kichern.
Oh Gott!
Sie konnte sich gar nicht beruhigen. Ein ganzer Abend! Sie würde einen ganzen Abend mit Ben verbringen – und eine Nacht. Ihrer Meinung nach hatte sie ihren Preis bereits erhalten.
January lief zur Tür und öffnete, dann erstarb ihr Lächeln. Der Mann vor ihr sah einfach umwerfend aus.
“Oh mein Gott”, murmelte sie.
Auch Ben war hingerissen. Sie sah besser aus als jeder Filmstar, den er kannte. “Verdammt heiß”, brachte er hervor.
“Du siehst wahnsinnig aus”, bemerkte sie.
“Und du bist einfach umwerfend”, erwiderte er und gab ihr einen Kuss auf die Wange. “Und du duftest so gut. Himmel! Was ist das für ein Parfüm?”
“Ich benutze gar keins.”
Er sah sie mit großen Augen an. “Du machst Witze.”
“Nein.”
“Dann muss es die Liebe sein.”
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie auf den Mund – ganz behutsam, um ihr Make-up nicht zu zerstören.
January blinzelte. Er hatte das magische Wort gesagt. Oh Himmel. Sollte sie darauf antworten oder würde das alles verderben? Vielleicht sagte er das nur aus einer Laune heraus und meinte es gar nicht ernst. Was sollte sie darauf erwidern? Jede Reaktion könnte falsch sein. Jedes Wort könnte eine peinliche Situation heraufbeschwören und den Zauber zwischen ihnen zerstören.
“Also, … Ich …”
“Du hast noch keine Schuhe an”, sagte Ben und zeigte auf ihre nackten Füße.
“Nein.”
“Meinst du nicht, du solltest dir noch welche anziehen, bevor wir gehen?”
“Gehen?”
“January?”
“Hmm?”
Ben steckte die Hand in seine Smokingtasche und zog die Zahnbürste heraus. “Mein Gepäck”, sagte er und drückte sie ihr in die Hand.
January sah auf die Zahnbürste, dann wieder zu Ben. “Kein Pyjama?”
“Kein Pyjama.”
“Teufel auch”, sagte sie und grinste. “Ich hole schnell meine Schuhe.”
“Wirst du heute Abend eine Rede halten?”, erkundigte er sich.
Sie streckte ihm die Zunge heraus. “Ich muss meine Schuhe holen.”
Er grinste. “Du wirst. Du hältst eine Rede.”
Sie verdrehte die Augen und schlüpfte in ihre Schuhe. Die zehn Zentimeter hohen Treter waren kaum mehr als Absatz und silberfarbene Bänder, doch sie passten perfekt zu dem weißen, schulterfreien Kleid.
Ben stützte sie, bis sie
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