Der Jüngling
meinen Gedanken wenig Ordnung herrschte. Die Ereignisse jagten mit Windeseile dahin, und die Gedanken wirbelten in meinem Kopf umher wie trockene Herbstblätter. Da ich ganz und gar aus fremden Gedanken bestand, wo hätte ich da eigene hernehmen sollen, als ich ihrer zu einem selbständigen Entschluß bedurfte? Einen Führer aber hatte ich überhaupt nicht.
Ich hatte mir vorgenommen, am Abend zum Fürsten zu gehen, um mich mit ihm ganz frei über alles auszusprechen; bis zum Abend blieb ich zu Hause. In der Dämmerzeit aber erhielt ich wieder mit der Stadtpost ein Briefchen von Stebelkow, nur drei Zeilen, mit der dringenden, »inständigen«, Bitte, ihn am nächsten Tag um elf Uhr vormittags »in einer sehr wichtigen Angelegenheit« zu besuchen; »Sie werden selbst sehen«, schrieb er, »daß es sich wirklich so verhält«. Nach kurzer Überlegung entschied ich mich dafür, je nach den Umständen zu handeln, da es bis zum andern Tag noch lange hin war.
Es war schon acht Uhr; ich wäre schon längst weggegangen, aber ich wartete immer noch auf Wersilow: ichhatte den Wunsch, ihm vieles zu sagen, und das Herz brannte mir. Aber Wersilow kam und kam nicht. Bei Mama und Lisa konnte ich mich vorläufig noch nicht wieder zeigen, und mein Gefühl sagte mir, daß auch Wersilow gewiß den ganzen Tag über nicht dagewesen war. Ich machte mich zu Fuß zum Fürsten auf, aber als ich schon unterwegs war, kam mir der Einfall, einen Blick in das gestrige Lokal am Kanal zu werfen. Und richtig saß da Wersilow auf seinem gestrigen Platz.
»Das hatte ich mir gedacht, daß du hierherkommen würdest«, sagte er, seltsam lächelnd und mich seltsam anblickend. Es war kein gutes Lächeln – ein Lächeln, wie ich es auf seinem Gesicht schon lange nicht mehr gesehen hatte.
Ich setzte mich zu ihm an das Tischchen und erzählte ihm von Anfang an, was zwischen dem Fürsten und Lisa vorgegangen war, sowie die Szene, die ich gestern nach dem Roulett bei dem Fürsten mit diesem gehabt hatte; auch meinen Gewinn im Roulett vergaß ich nicht. Er hörte sehr aufmerksam zu und stellte Fragen über den Entschluß des Fürsten, Lisa zu heiraten.
»Pauvre enfant, vielleicht gewinnt sie nichts dadurch. Aber wahrscheinlich kommt die Sache gar nicht zustande ... obwohl er dazu fähig wäre ...«
»Sagen Sie mir als Freund: Sie haben es doch gewußt, geahnt?«
»Mein Freund, was konnte ich dabei tun? Alles das ist eine Sache des Gefühls und eines fremden Gewissens, wenn auch die Person, die dabei in Betracht kommt, dieses arme Mädchen ist. Ich kann dir nur wiederholen: ich habe mich seinerzeit genug in das Gewissen anderer Menschen eingedrängt – es ist ein höchst unpraktisches Manöver! Jemandem im Unglück zu helfen, weigere ich mich nicht, soweit meine Kraft reicht und wenn ich Verständnis dafür habe. Aber du, mein Lieber, du hast also die ganze Zeit über nichts geargwöhnt?«
»Aber wie konnten Sie«, rief ich, heftig auffahrend, »wie konnten Sie, wenn Sie auch nur eine Spur von Verdacht hatten, daß ich etwas von Lisas Beziehungen zu dem Fürsten wußte, und wenn Sie zugleich sahen, daß ich von demFürsten Geld annahm, wie konnten Sie dann mit mir reden, mit mir zusammensitzen, mir die Hand reichen – mir, den Sie doch für einen Schuft halten mußten, denn ich möchte wetten, Sie argwöhnten wirklich, daß ich alles wußte und von dem Fürsten für meine Schwester wissentlich Geld annahm!«
»Das ist wieder so eine Gewissenssache«, antwortete er lächelnd. »Und woher weißt du«, fügte er mit einer rätselhaften Wärme des Gefühls nachdrücklich hinzu, »woher weißt du, ob nicht auch ich, wie du gestern in einem andern Fall, gefürchtet habe, mein ›Ideal‹ zu verlieren und statt meines heißblütigen, ehrenhaften Jungen einen Taugenichts vor mir zu sehen? In dieser Befürchtung schob ich den Augenblick hinaus. Warum setzt du bei mir statt Trägheit und Hinterlist nicht irgendeinen harmloseren, meinetwegen einen dummen, aber doch anständigeren Beweggrund voraus? Que diable! Ich bin nur zu oft dumm, auch wo keine Anständigkeit mitspielt. Was hätte ich dann noch von dir gehabt, wenn du tatsächlich eine solche Haltung gezeigt hättest? Jemanden durch Ermahnungen bessern zu wollen, ist in solchen Fällen ein unwürdiges Verfahren; du würdest in meinen Augen doch allen Wert verloren haben, selbst wenn du dich dann gebessert hättest ...«
»Aber Lisa tut Ihnen doch leid? Die tut Ihnen doch leid?«
»Sehr leid tut sie mir,
Weitere Kostenlose Bücher