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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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Antwort, er mache zwischen den Kindern keinen Unterschied; sie seien hier sämtlich seine Kinder und er ihr Vater, und ich stünde bei ihm fast auf der gleichen Stufe mit den Senatoren- und Grafensöhnen, und man müsse das zu schätzen wissen und so weiter und so weiter. Mama verneigte sich nur, wurde aber verlegen; schließlich wandte sie sich zu mir und sagte, während Tränen in ihren Augen glänzten: »Leb wohl, lieber Junge!«
    Sie küßte mich, das heißt, ich gestattete ihr, mich zu küssen. Offenbar hätte sie mich gern immer wieder und wiedergeküßt, umarmt und an sich gedrückt, aber ob sie sich nun selbst vor den Leuten genierte oder aus irgendeinem andern Grund traurig war oder merkte, daß ich mich ihrer schämte, genug, sie verbeugte sich noch einmal vor Herrn und Frau Touchard und ging dann eilig zur Tür. Ich blieb auf meinem Platz stehen.
    »Mais suivez donc votre mère!« sagte Antonina Wassiljewna. »Il n'a pas de coeur cet enfant!«
    Touchard antwortete ihr mit einem Achselzucken, was natürlich bedeutete: »Es hat schon seinen guten Grund, daß ich ihn wie einen Lakaien behandle.«
    Ich ging gehorsam hinter Mama her die Treppe hinab; wir traten auf die Außentreppe. Ich wußte, daß jetzt alle uns durch das Fenster beobachteten. Mama wandte sich nach der Kirche hin und bekreuzigte sich dreimal unter tiefen Verbeugungen, ihre Lippen zuckten; der tiefe Ton einer Glocke erscholl klangvoll und in gemessenen Abständen vom Glockenturm. Mama wandte sich zu mir, und nun konnte sie sich nicht mehr bezwingen: sie legte mir ihre beiden Hände auf den Kopf, beugte sich über mich und weinte.
    »Mamachen, hören Sie auf ... ich muß mich ja schämen ... sie sehen ja jetzt alle aus dem Fenster nach uns her ...«
    Sie fuhr zusammen und sagte eilig:
    »Gott der Herr ... Gott der Herr sei mit dir ... die himmlischen Engel mögen dich behüten und die allerheiligste Mutter Gottes und der heilige Nikolai ... Herrgott, Herrgott!« sagte sie mehrmals schnell hintereinander und bekreuzigte mich dabei, bemüht, recht viele und recht große Kreuze über mich zu machen. »Mein Täubchen, mein liebes Kind! Ja, warte mal, Täubchen ...«
    Sie steckte hastig die Hand in die Tasche und zog ein Tuch heraus, ein blaukariertes Tuch, in welches an einer Ecke ein Knoten gebunden war; sie machte sich daran, den Knoten zu öffnen, aber er wollte sich nicht öffnen lassen ...
    »Nun, es schadet nichts, nimm das ganze Tuch; es ist sauber, du kannst es vielleicht gebrauchen; es sind vier Zwanziger darin, vielleicht hast du einmal Geld nötig. Verzeihmir, Täubchen, mehr habe ich gerade selbst nicht ... verzeih, mein Täubchen!«
    Ich nahm das Tuch und wollte schon erwidern, daß von Herrn Touchard und Antonina Wassiljewna sehr gut für uns gesorgt werde und wir nichts weiter brauchten, aber ich unterdrückte diese Antwort und nahm das Tuch an. Noch einmal bekreuzigte sie mich, noch einmal flüsterte sie ein Gebet, und auf einmal – und auf einmal verneigte sie sich auch vor mir, ganz ebenso wie oben in der Wohnung vor den Touchards, mit einer tiefen, langsamen, langen Verbeugung – ich werde das nie vergessen! Ich zuckte ordentlich zusammen und wußte selbst nicht, warum. Was wollte sie mit dieser Verbeugung sagen? Bekannte sie damit ihre Schuld mir gegenüber, wie ich mir das einmal lange nachher zurechtlegte – ich weiß es nicht. Aber damals war es mir um so peinlicher, als ich mir sagte: ›Von dort sehen sie alle zu, und Lambert wird mich am Ende dafür hauen.‹
    Endlich ging sie fort. Die Apfelsinen und Pfefferkuchen hatten, noch ehe ich wieder hereinkam, die Senatoren- und Grafensöhne aufgegessen, und die vier Zwanziger nahm mir Lambert sogleich weg; dafür kauften sie sich in einer Konditorei Kuchen und Schokolade und gaben mir nicht einmal etwas davon ab.
    Ein halbes Jahr war vergangen, und der Oktober mit seinem Wind und Regen war schon gekommen. An Mama dachte ich gar nicht mehr. Oh, damals war schon der Haß, ein dumpfer Haß gegen alles, in mein Herz gedrungen und hatte es ganz durchtränkt; ich bürstete zwar Touchard wie früher ab, aber ich haßte ihn bereits mit aller Kraft und täglich immer mehr und mehr. Und siehe da, eines Tages in der melancholischen Zeit der Abenddämmerung kramte ich aus irgendeinem Grund in meinem Kommodenkasten herum und erblickte auf einmal in einer Ecke Mamas blaues Batisttuch; es hatte dort, seit ich es hineingeworfen, unbeachtet gelegen. Ich nahm es heraus und besah es mit einer

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