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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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bestimmte Vorstellung gehabt hatte, daß ich den alten Mann allein treffen würde wie gestern, so blieb ich auf der Schwelle in stumpfer Verwunderung stehen. Aber ich hatte noch keine Zeit gehabt, ein finsteres Gesicht zu machen, als sogleich auch Wersilow hinzukam und nach ihm auf einmal auch Lisa... Sie hatten sich also zufällig alle bei MakarIwanowitsch versammelt, und zwar gerade zu einer Zeit, wo es mir unerwünscht war!
    »Ich wollte mich nach Ihrem Befinden erkundigen«, sagte ich, indem ich gerade auf Makar Iwanowitsch zuging.
    »Danke, Lieber, ich hatte dich erwartet: ich wußte, daß du kommen würdest! Ich habe in der Nacht an dich gedacht.«
    Er blickte mir freundlich ins Gesicht, und ich konnte sehen, daß ich wohl derjenige war, den er von allen Anwesenden am liebsten hatte, aber ich bemerkte auch sofort unwillkürlich, daß, wenn auch sein Gesicht heiter aussah, doch die Krankheit in der Nacht Fortschritte gemacht hatte. Der Doktor hatte ihn kurz vorher sehr gründlich untersucht. Ich erfuhr später, daß dieser Doktor (derselbe junge Mensch, mit dem ich mich überworfen hatte und der Makar Iwanowitsch gleich von dessen Ankunft an behandelte) dem Patienten große Aufmerksamkeit zuwandte und bei ihm einen ganzen Komplex verschiedener Krankheiten – ich verstehe nur nicht, sie in der medizinischen Sprache zu bezeichnen – annahm. Makar Iwanowitsch stand, wie ich auf den ersten Blick bemerkte, mit ihm schon auf dem besten freundschaftlichen Fuß; mir mißfiel das sofort – übrigens befand ich mich natürlich in diesem Augenblick auch in recht unangenehmer Stimmung.
    »Das wollte ich auch fragen, Alexander Semjonowitsch: wie geht es unserm lieben Kranken heute?« erkundigte sich Wersilow. Wäre ich nicht so verstört gewesen, so wäre es mir vor allen Dingen höchst interessant gewesen, das Benehmen Wersilows diesem alten Mann gegenüber zu beobachten; daran hatte ich schon gestern gedacht. Ganz besonders fiel mir jetzt Wersilows außerordentlich sanfter, angenehmer Gesichtsausdruck auf, der den Eindruck völliger Aufrichtigkeit machte. Ich habe, glaube ich, schon früher einmal bemerkt, daß Wersilows Gesicht immer wunderbar schön wurde, sobald er es mit jemand auch nur einigermaßen gut und freundlich meinte.
    »Ach, wir zanken uns immer«, antwortete der Arzt.
    »Sie zanken sich mit Makar Iwanowitsch? Das kann ich nicht glauben; mit dem kann man sich nicht zanken.«
    »Aber er gehorcht gar nicht; er schläft nachts nicht...«
    »Na, nun hör aber auf, Alexander Semjonowitsch, du hast mich ja schon genug gescholten«, sagte Makar Iwanowitsch lachend, »Nun, wie steht's, Väterchen Andrej Petrowitsch, wie ist man denn beim Gericht mit unserm Fräulein verfahren? Die hier ist schon den ganzen Morgen in Angst und Unruhe«, fügte er, auf Mama zeigend, hinzu.
    »Ach, Andrej Petrowitsch«, rief Mama, die tatsächlich sehr beunruhigt war, »erzähl es uns doch recht schnell und quäl uns nicht: wie ist denn über die Ärmste entschieden worden?«
    »Unser Fräulein ist verurteilt!«
    »Ach!« rief Mama.
    «Aber nicht zur Verschickung nach Sibirien, beruhige dich, sondern nur zu fünfzehn Rubeln Strafe; es war die reine Komödie!«
    Er setzte sich hin und der Doktor ebenfalls. Dieses Gespräch bezog sich auf Tatjana Pawlowna, und ich hatte von dieser Geschichte noch gar nichts erfahren. Ich saß links von Makar Iwanowitsch, und Lisa setzte sich mir gegenüber an seine rechte Seite; sie hatte offenbar einen eigenen, besonderen, erst von heute herrührenden Kummer, mit dem sie eben zu Mama gekommen war; der Ausdruck ihres Gesichts war unruhig und aufgeregt. In diesem Augenblick trafen sich zufällig unsere Blicke, und ich dachte auf einmal im stillen: ›Wir haben beide Schmach erlitten, und ich muß den ersten Schritt zur Annäherung tun.‹ Ein mildes Gefühl ihr gegenüber erfüllte plötzlich mein Herz. Unterdessen begann Wersilow zu erzählen, was sich an diesem Morgen zugetragen hatte.
    Die Sache war die, daß Tatjana Pawlowna an diesem Morgen beim Friedensgericht einen Prozeß mit ihrer Köchin gehabt hatte. Es war eine höchst unbedeutende Geschichte; ich habe schon erwähnt, daß die boshafte Finnin manchmal, wenn sie sich ärgerte, wochenlang schwieg und auf die Fragen ihrer Herrin kein Wort erwiderte; ich habe ebenfalls erwähnt, wie schwach sich ihr gegenüber Tatjana Pawlowna zeigte, die sich von ihr alles gefallen ließ und sich um keinen Preis dazu entschließen konnte, sie ein für allemal

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