Der Junge aus dem Meer
war schon zwanzig Minuten nach eins, und das ganze Haus Seestern saß beim Mittagessen.
Als es dann später auf zwei Uhr zuging, kam zuerst Professor Stoll über den Hügel geradelt. Seine leichte Leinenjacke flatterte dabei im Wind, und zwischendurch mußte er immer wieder seinen Strohhut festhalten. Als er Herrn Küselwind entdeckte, steuerte er zu ihm hinüber.
„Ist der Kommissar schon aufgekreuzt?“ fragte der Professor, als er von seinem Drahtesel kletterte.
„Bis jetzt noch nicht“, erwiderte der Wachtmeister. Er hatte sich unterdessen aus seiner Hängematte gleiten lassen
und zeigte zum Haus Seestern. „Sie sind alle drüben versammelt.“
„Sonst was Neues?“
„Nichts, was mir aufgefallen wäre“, antwortete der rothaarige Herr Küselwind. „Aber glauben Sie nicht, daß ich jetzt wieder meine Uniform anziehen könnte? Ich möchte den Kommissar lieber nicht in der Badehose empfangen. Könnte sein, er geht gleich die Wände hoch, wenn er mich so sieht.“
„Und das wollen wir nicht riskieren“, lachte Professor Stoll. „Abgesehen davon müssen wir jetzt sowieso Farbe bekennen und die Karten auf den Tisch legen. Werden Sie also getrost wieder dienstlich. Ich will inzwischen die Herrschaften drüben möglichst schonend auf den Besuch aus Westerland vorbereiten. Sie haben ja noch keine blasse Ahnung.“
Auf die Minute genau rollte um zwei Uhr ein Streifenwagen in den Hof. Allerdings ohne Blaulicht und ohne Sirene.
Zuerst sprang ein junger Mann ins Freie, den man kaum in einem Polizeiauto vermutet hätte. Er trug einen sandfarbenen Cordanzug und ziemlich langes Haar. „Schön hier“, stellte er fest und holte tief Luft.
„Wir machen keinen Sonntagsausflug“, knurrte ein zweiter Mann, der bedeutend älter war und eine massige Figur hatte. Es machte ihm Mühe, aus dem engen Volkswagen zu klettern. Als er sich in seiner ganzen Länge aufrichtete, war er genauso groß wie Professor Stoll, der ihm jetzt vom Haus her entgegenkam.
Aber bevor sich die beiden Herren begrüßen konnten, sprang noch Wachtmeister Küselwind dazwischen, legte seine Hand an die Uniformmütze und rasselte seine Meldung herunter. „Und das ist Professor Stoll“, sagte er zum Schluß.
„Kommissar Michelsen“, stellte sich der breitschultrige Mann vor. „Und das ist mein Mitarbeiter, Kriminalassistent Lüders.“
„Sehr angenehm“, erwiderte Professor Stoll, und gleich darauf fragte er lächelnd: „Auch einszweiundneunzig ?“
„ Einsdreiundneunzig mit Socken“, antwortete Kommissar Michelsen. Er machte plötzlich den Eindruck, als ob er ein ganz umgänglicher Mann sei.
„Wachtmeister“, sagte er jetzt zu Herrn Küselwind, „bleiben Sie hier am Wagen. Und falls sich das Telefon oder das Funkgerät meldet, sagen Sie uns Bescheid.“
„Um ein Haar wäre ich zu spät gekommen“, meinte Professor Stoll, während die Herren über den Hof gingen. „Ruft mich da im letzten Augenblick noch der Portier vom Strandhotel zu einem Badegast, der gestern morgen angekommen ist und sich gleich acht Stunden hintereinander in die pralle Sonne gelegt hat. Jetzt wundert er sich, daß er mit Hitzschlag und Hautverbrennungen auf der Schnauze liegt. Es ist kaum zu glauben, wie unvernünftig mancher ist.“
„Ich habe natürlich schon viel von Ihnen gehört, Professor Stoll“, bemerkte der Kriminalkommissar aus Westerland. „Und ich freue mich, daß ich Sie jetzt durch Zufall persönlich kennenlerne. Sie wissen es vielleicht nicht, aber Sie gehören zu unseren Inselberühmtheiten.“
„Jetzt sehen Sie mich so verlegen, als hätten Sie mich gegerade beim Äpfelklauen ertappt“, lachte der weißhaarige Professor. „Bitte kommen Sie herein.“ Dabei machte er die Haustür auf. „Und jetzt den Kopf einziehen“, mahnte er noch, bevor sie anschließend in den großen Wohnraum mit der Küche eintraten.
Das ganze Haus Seestern war vollzählig versammelt. Die Jungen standen auf wie in der Schule, wenn der Lehrer in die Klasse kommt, und Großmutter Kubatz setzte ihr freundlichstes Gesicht auf. „Willkommen, Herr Kommissar“, sagte sie und hielt dem baumlangen Herrn aus Westerland beide Hände entgegen. „Vorgestern der Unfallwagen und heute ein Polizeiauto. Unsere Nachbarn müssen allmählich glauben, daß ich seit neuestem als Mörder unterwegs bin oder wenigstens im Keller Falschgeld fabriziere.“
„Einmal bringt die Sonne alles an den Tag“, antwortete Kommissar Michelsen und lächelte verschmitzt. „Ich freue
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