Der Junge aus dem Meer
Bürgermeister vorschlagen. Meistens gibt es auch noch eine Armbanduhr dazu.“ Er lehnte sich wieder zurück. „Aber das nur so nebenbei. Bitte weiter.“
Paul Nachtigall war die angekündigte Medaille für einen Augenblick auf den Magen geschlagen. „Entschuldigung“, sagte er deshalb und bekam wieder einmal seine knallroten Ohren. Aber dann berichtete er weiter. Wie zuerst der Milchwagen von der Molkerei gekommen war und dann das Unfallauto. Anschließend erzählte Großmutter Kubatz, daß sie den halberfrorenen Jungen auf dem Sofa in einen Berg von Decken verpackt hatte.
Den Schluß des Berichts übernahm Professor Stoll. Er war dazu aufgestanden und spazierte wieder einmal im Zimmer hin und her, wie es seine Art war, wenn er etwas zu erklären oder zu erzählen hatte. Der Kriminalkommissar aus Westerland ließ dabei den schwarzhaarigen Jungen, der vorläufig Alexander hieß, nicht aus den Augen.
Professor Stoll dozierte inzwischen wie vor Studenten in einem Hörsaal der Universität. Er erklärte wieder den Unterschied von Schockwirkungen und länger anhaltendem Gedächtnisvarlust , gab genauen Bericht über seine Untersuchungen und warnte schließlich eindringlich vor der Gefahr einer neuen Krise. „Er muß ein völlig normales Leben um sich haben, das ist jetzt das wichtigste“, stellte Professor
Stoll fest. Er hatte seine Wanderung durch das Zimmer abgeschlossen und ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. „Ich beziehe mich dabei auf den Rat meines Freundes in Hamburg. Es handelt sich um Professor Schreiber, eine Kapazität auf diesem Spezialgebiet der Medizin. Er hat mir versprochen, spätestens in zwei Tagen hier zu sein.“
„Haben Sie auch schon an Drogen gedacht?“ fragte Kriminalkommissar Michelsen nach einer längeren Pause. Inzwischen hatte er sich die zweite Zigarre angesteckt.
„Natürlich“, erwiderte Professor Stoll. „Das war sogar eine meiner ersten Befürchtungen. Aber die Blutuntersuchung beweist, daß Drogen mit Sicherheit nicht im Spiel sind.“
„Drogen bei einem Jungen in diesem Alter?“ fragte Großmutter Kubatz verwundert.
„Es gibt beinahe schon Kindergärten, in denen das Zeug geschluckt wird“, meinte der Kriminalkommissar und wandte sich jetzt zum erstenmal direkt an Alexander. „Du weißt doch, was Drogen sind?“
„Sie meinen Hasch oder so etwas Ähnliches?“ fragte der schwarzhaarige Junge.
„Ja, Hasch oder so etwas Ähnliches“, wiederholte Herr Michelsen. „Hast du so was schon mal genommen, oder hat dich irgend jemand dazu überredet?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Alexander. Er machte den Eindruck, als würde er ganz angestrengt nachdenken. Dabei wirkte er gleichzeitig auch wieder so, als sei er ganz weit weg oder hinter einer enorm dicken Schaufensterscheibe.
„Aber du weißt zum Beispiel, was zwölf mal zwölf ist?“ fragte Herr Michelsen jetzt überraschend.
„Einhundertvierundvierzig.“
„Und wo hast du rechnen gelernt?“
„Das weiß ich nicht.“
„Er kann rechnen“, stellte der Kriminalkommissar verwundert fest, „aber er hat keine Ahnung, wo er es gelernt hat.“
Jetzt stand er aus seinem Sessel auf und machte die paar Schritte zum Fenster.
Der Rauhhaardackel namens Professor hüpfte zu Paul Nachtigall auf das Sofa, und der Wellensittich, der bisher über der Tischlampe gesessen hatte, flatterte wieder einmal auf die linke Schulter von Großmutter Kubatz.
„Es ist immer noch wie in einem Zoo bei Ihnen“, meinte Herr Michelsen nachdenklich. Draußen vor dem Fenster grasten die Pferde Peter und Paul, weil es ihnen inzwischen an der Küchentür wohl zu langweilig geworden war, ein Pfau schlug gerade ein Rad, und zwei junge Katzen ärgerten eine Schildkröte.
„Wieso bist du eigentlich zu Hause weggelaufen?“ fragte der Kriminalkommissar auf einmal wie aus heiterem Himmel und drehte sich um dabei.
Einen Augenblick lang war es ganz still in dem Zimmer, beinahe so, als hielten alle den Atem an.
„Ich weiß nicht, ob ich weggelaufen bin“, sagte Alexander nach einer Weile. „Ich weiß es wirklich nicht.“
„Und diese Bilder?“ fuhr der Kriminalkommissar fort. „Sagen dir diese Bilder vielleicht etwas?“
Herr Michelsen hatte mit einem schnellen Griff eine Handvoll Fotografien aus seiner Tasche gezaubert und warf sie vor dem Jungen auf den Tisch.
„Schau sie dir an!“ befahl der Kommissar und war jetzt ganz plötzlich nicht mehr der freundliche Besucher aus Westerland.
Alexander nahm zögernd ein
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