Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
»Wahrscheinlich am späten Nachmittag.«
»Ist es nicht komisch, dass beide im selben Prozess verhandeltwerden?«, sagte Cate. »Irgendwie geht es gegen mein Bauchgefühl.«
»Es ist besser, beide Angeklagten zur selben Zeit im Saal zu haben«, erklärte Kyle. »Nichts weckt bei den Geschworenen mehr Zweifel als ein leerer Stuhl. Das würde der Verteidigung in die Hände spielen. Außerdem wäre es viel zu teuer und zeitaufwendig, den gleichen Prozess zweimal zu führen.«
Skwarecki malte mit der Fingerspitze im Kondenswasser an ihrem beschlagenen Wasserglas. »Abgesehen davon, dass die Zeugen in verschiedenen Verhandlungen möglicherweise unterschiedlich aussagen, weil sie sich jedes Mal ein bisschen anders an die Details erinnern. Und sei es nur eine Kleinigkeit – ›Er trug einen grauen Anzug‹ oder ›Er trug eine blaue Jacke‹ –, die Verteidigung würde sich auf die Widersprüche stürzen und die gesamte Aussage infrage stellen.«
»Aber sie haben verschiedene Anwälte, oder? Albert Williams und Teddys Mutter?«
»Es gäbe einen Interessenkonflikt, wenn sie beide denselben Pflichtverteidiger hätten. So ist Teddys Mutter bei Marty gelandet.«
»Darüber habe ich mich auch schon gewundert«, sagte ich. »Sieht man sich seinen Schneider an, scheint der Kerl nicht gerade ein Schnäppchen zu sein.«
Kyle trank einen Schluck Eiswasser. »Es gibt ein Rotationssystem, nach dem die örtlichen Strafverteidiger in solchen Fällen einspringen müssen. Teddys Mutter hat Glück gehabt.«
»Und Marty wird die Geschichte als Werbung ausschlachten«, sagte Skwarecki. »Das ist sonnenklar.«
»Über unseren Mr Hetzler wurde schon viel gesagt«, bestätigte Kyle, »aber dass er sein Licht unter den Scheffel stellen würde, habe ich noch nie gehört.«
Eine Stunde später, als wir gerade die Vorteile von Kaffee und/oder Nachtisch gegeneinander abwogen, setzte sich an den Tisch neben uns eine Gruppe junger Männer mit den gängigen Gang-Attributen: tief sitzende Hosen, dicke Goldketten, Medaillons in der Größe von Kühlerfiguren.
Kyle und Skwarecki musterten sie mit verhangenem Blick. Die Jungs starrten zurück, mit gesträubten Kämmen.
Anscheinend aßen auch die Gauner hier.
Oder es sind nur Touristen.
»Nachtisch?«, fragte Cate. »Puh, ich habe das Gefühl, ich hätte einen ganzen Zampone gegessen.«
»Ich nehme einen Cannolo«, sagte Skwarecki. »Heute ist mal wieder so ein Tag.«
»Müssen Sie nicht zurück aufs Revier?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe heute RDO.«
Ich sah sie verständnislos an.
»Regulär dienstfrei«, erklärte Kyle. »Für Aussagen vor Gericht kriegt unser Kumpel hier Überstunden bezahlt.«
Skwarecki grinste. »Eure Steuergelder.«
»Hey«, sagte ich, »ein Job, bei dem sie auf einen schießen, sollte mindestens eine Million netto im Jahr wert sein.«
»Ihr Wort in Gottes Ohren.« Skwarecki stieß mit meiner Diet Coke an.
Plötzlich trillerte es unter dem Tisch, als hätte sich R2-D2 irgendwo da unten verirrt.
Skwarecki warf einen Blick auf den Piepser, den sie am Gürtel trug.
»Sie müssten jetzt fertig sein.« Sie stand auf und ging zu dem Münztelefon im Eingangsbereich. Unter dem Blazer sah ich die Ausbeulung ihrer Pistole.
Unser Kellner kam, und Kyle bestellte einen Cannolo und vier Espressos.
Dann kam Skwarecki zurück und setzte sich.
»Ist die Anklage durch?«, fragte Kyle.
»Besser«, sagte sie. »Acht Einzeltatbestände für jeden der beiden.«
Cate und ich klatschten uns ab.
Ich ließ meine brennende Hand unter den Tisch sinken. »Ist das gut?«
»Acht ist traumhaft«, sagte Skwarecki, »aber wir müssen noch mal über den Turnschuh sprechen.«
»Was ist damit?«, fragte Cate.
»Die Geschworenen hatten viele Fragen dazu. Für die Hauptverhandlung braucht Louise Bost den zweiten Schuh. Kann mich eine von Ihnen morgen Vormittag auf dem Friedhof herumführen?«
Die Jungs am Nebentisch lachten und ignorierten uns.
»Muss es morgen sein?«, fragte Cate. »In den nächsten Tagen stecke ich bis zum Hals in Arbeit.«
Skwarecki verschränkte die Arme und sah mich an.
Im gleichen Moment kam Louise Bost herein und sah sich in der Menge um, bis sie unseren Tisch entdeckte.
»Ich mache es«, sagte ich. »Was soll’s.«
Die Staatsanwaltschaft nahm sich einen Stuhl und setzte sich dazu.
»Gute Arbeit heute«, sagte Skwarecki.
»Nicht genug.« Louise Bost sah mich und Cate streng an. »Hat Detective Skwarecki Ihnen schon gesagt, dass wir
Weitere Kostenlose Bücher