Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
mit einem Mann zu tun, der sein Kind mit einem Bügeleisen zu Tode gequält hat«, sagte Kyle. »Ich glaube, Skwarecki hat das kleine Mädchen aus der Müllkippe gefischt.«
Wir anderen legten die Stäbchen hin. Unser Interesse am Essen war schlagartig erloschen.
»Tut mir leid.« Er sah in die Runde unserer bleichen Gesichter.
»Danke, dass du tust, was du tust«, sagte Sue und hielt das Bier hoch. »Ich würde es keine fünf Minuten aushalten. Wirklich nicht.«
Wir hoben alle unser Bier.
»Was für ein Albtraum«, seufzte Pagan. »Das Ganze ist ein verfluchter Albtraum.«
33
Für die Geschworenenjury am Mittwochmorgen zog ich mein einziges Kostüm an, die dunkelblaue, abgelegte Gabardine-Kombi, die sich eine ehemalige Kommilitonin mal für ein Vorstellungsgespräch gekauft hatte. In dem steifen zweireihigen Blazer und dem Faltenrock sah ich aus wie eine untersetzte ledige Tante beim Klassentreffen.
Ich war froh, dass Dean nicht zu Hause war; er hätte mich für den Rest unseres Lebens damit aufgezogen.
Louise Bost dagegen sah ziemlich scharf aus, in tailliertem Grau, mit einem Rock, der über den Knien endete.
Der Saal, in dem die Jury tagte, war kleiner als die Gerichtssäle, die ich am Dienstag auf dem Weg zu Louise Bosts Büro gesehen hatte. Es gab zwei massive Holztüren ohne Glasscheiben. Durch eine war ich aus dem kleinen Wartezimmer hereingerufen worden. Die andere führte zurück auf den Hauptflur, nahm ich an.
Ich setzte mich und warf einen Blick auf die Geschworenen, etwa zwanzig Gesichter, die alle ungefähr im Alter meiner Eltern oder älter waren.
Louise Bost trat vor und nickte mir zu. »Würden Sie uns fürs Protokoll bitte Ihren vollen Namen und Ihre Adresse nennen?«
»Madeline Ludlam Fabyan Dare«, antwortete ich.
Einer der Geschworenen zog die Brauen hoch, ein älterer, irisch aussehender Kerl mit einer braunen Strickjacke.
Ich konnte es ihm nicht verübeln. Mein voller Name war ein ziemlicher Zungenbrecher.
»Ms Dare«, begann Louise Bost, »zu Beginn möchte ich Sie nach den Ereignissen des neunzehnten September fragen.«
»Natürlich«, sagte ich.
Und dann ging es los. Ich berichtete von der Begegnung mit Cate, dem Friedhof, die ganze Geschichte, bis hin zu dem Fund des Turnschuhs. Mit ihren Fragen geleitete Louise Bost mich sicher bis ans Ende.
»Danke, Ms Dare«, sagte Louise Bost. »Ich frage nun die Geschworenen, ob sie noch irgendwelche Fragen an Ms Dare haben.«
Wir sahen die Geschworenen an.
Eine Afroamerikanerin mit silbernem Haar beugte sich vor. »Ich habe eine Frage.«
»Ja, Ma’am?«, sagte die Staatsanwältin.
Die Frau setzte sich die Brille auf die Nase, die sie an einer mit bunten Perlen verzierten Kette um den Hals trug. »Darf ich fragen, wer den Turnschuh gefunden hat?«
Louise Bost sah mich an. »Ms Dare?«
»Eine der Freiwilligen«, sagte ich.
Die Geschworene nickte. »Und wissen Sie auch, welche?«
Bost gab die Frage an mich weiter. »Wussten Sie zum damaligen Zeitpunkt, welcher der Helfer den Turnschuh entdeckt hatte?«
»Nein«, sagte ich und sah von ihr zur Geschworenen. »Derjenige hatte ihn auf einen kleinen Granitsockel gestellt, gleich am Hauptweg.«
»Sie wissen also nicht, wo genau der Schuh gefunden wurde?«, fragte die Geschworene.
»Kannten Sie den eigentlichen Fundort, Ms Dare?«, fragte Louise Bost.
Ich antwortete der Geschworenen direkt. »Nein, Ma’am. Ich habe ihn erst gesehen, als er auf dem Sockel lag. Die Helfer waren zu diesem Zeitpunkt schon nach Hausegegangen. Cate und ich berührten ihn nicht, bis die Ermittlerin da war.«
Die Sache mit dem Stöckchen erwähnte ich nicht.
»Ich verstehe. Danke«, sagte die Geschworene und lehnte sich wieder in ihrem Sitz zurück.
Louise Bost wartete noch einen Moment. »Gibt es sonst noch Fragen?«
Die Geschworenen schüttelten die Köpfe.
»Gut, Ms Dare«, sagte sie. »Vielen Dank.«
Ich stand auf und ging zurück in das Wartezimmer.
Kyle hatte mich gebeten, ihn im Büro zu besuchen, wenn ich fertig war.
Der Sicherheitsmann ließ mich durch die Schranke zur Staatsanwaltschaft. Rosemary bat mich wieder, auf ihrer Liste zu unterschreiben, bevor sie mir einen »Gast«-Aufkleber gab. Diesmal war er blau.
Sie rief Kyle an, und er holte mich am Empfang ab.
»Brauche ich einen Schirm?«, fragte ich, als ich ihm in einen anderen Flur folgte, in der entgegengesetzten Richtung von Louise Bosts Büro.
»Heute solltest du sicher sein«, erklärte er. »Es scheint zügig voranzugehen.
Weitere Kostenlose Bücher