Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
zurück.« Er räusperte sich und fuhr fort: »Soll ich dir erzählen, wie ich einmal einen Mann in diesem Haus ermordet habe? Furchtbar, nicht wahr? Unter diesem Dach. Den Grund kann ich dir auch verraten, das Bild unten über dem Kamin, der Mann im Sessel –« Da fiel ihm plötzlich ein: Er konnte Frank nicht sagen, daß das Bild eine Fälschung war, genau wie inzwischen so viele Derwatts. Nicht wenn Frank es weitererzählen konnte, Monate oder auch Jahre später.
»Ja, ich mag das Bild«, sagte Frank. »Und der Mann wollte es stehlen?«
»Nein!« Tom warf den Kopf zurück und lachte. »Mehr will ich nicht sagen. Irgendwie sind wir uns gleich, nicht wahr, Frank?« Lag da nicht eine Spur von Erleichterung im Blick des Jungen? »Gute Nacht, Frank. Ich wecke dich gegen acht.«
In seinem Zimmer stellte Tom fest, daß Madame Annette seinen Koffer ausgepackt hatte. Er würde also wieder von vorn anfangen müssen, mit dem Rasierzeug und so weiter. Das Geschenk für Héloïse, die blaue Handtasche, lag nun auf dem Schreibtisch, noch immer in der weißen Plastiktüte. Die Tasche war in einer Schachtel verpackt. Tom beschloß, sie irgendwann morgen früh in ihr Zimmer zu schmuggeln – sie würde das Geschenk nach seiner Abreise finden. Fünf nach elf: Tom ging nach unten, um Thurlow anzurufen, obwohl auch in seinem Zimmer ein Apparat stand.
Johnny meldete sich. Er sagte, Thurlow dusche gerade.
»Ihr Bruder möchte, daß ich morgen mitkomme, also werde ich ihn begleiten«, sagte Tom. »Nach Amerika, meine ich.«
»Ach, wirklich? Na, schön!« Johnny klang erfreut. »Da kommt Ralph. – Tom Ripley.« Er gab den Hörer weiter.
Tom fing noch einmal an. Dann fuhr er fort: »Ob Sie mir wohl einen Platz in derselben Maschine besorgen könnten? Oder soll ich es gleich selber probieren?«
»Nein, ich erledige das. Geht bestimmt klar«, sagte Thurlow. »War das Franks Idee?«
»Sein Wunsch, ja.«
»Okay, Tom. Bis morgen dann, gegen zehn.«
Tom duschte noch einmal warm. Er freute sich auf sein Bett. Noch am Morgen war er in Hamburg gewesen – was der gute alte Reeves in diesem Augenblick wohl gerade machte? Wieder Geschäfte mit irgendwem, bei einem kühlen Weißwein in seiner Wohnung? Tom beschloß, das Pakken auf morgen zu verschieben.
Im Bett, im Dunkeln, dachte Tom über die Kluft zwischen den Generationen nach (oder versuchte es wenigstens): Gab es sie zwischen allen? Und überlappten diese Generationen sich nicht, so daß man die Perioden der Veränderung nicht zeitlich genau auf fünfundzwanzig Jahre fixieren konnte? Tom versuchte sich vorzustellen, wie das für Frank sein mußte, in dem Jahr geboren zu sein, als die Beatles in London, nach der Zeit in Hamburg, gerade ihre ersten Erfolge feierten, dann auf Amerikatour gingen und die Popmusik revolutionierten – etwa sieben Jahre alt zu sein, als der erste Mensch den Mond betrat und die Vereinten Nationen sich als Organisation zur Friedenswahrung allmählich lächerlich machten und politisch mißbraucht wurden. Genau wie zuvor der Völkerbund, war es nicht so? Längst Geschichte, der Völkerbund, dem es nicht gelungen war, Franco oder Hitler zu stoppen. Jede Generation mußte sich offenbar von irgendwelchen Dingen lösen und dann verzweifelt etwas anderes suchen, an das sie sich klammern konnte: Heute waren es für die Jugendlichen manchmal Gurus oder Hare Krischna oder die Sekte der Moonies – und immer und ewig die Popmusik. Hin und wieder sprachen ihnen Protestsongs aus der Seele. Sich zu verlieben galt dagegen als altmodisch, hatte Tom irgendwo gelesen oder gehört, jedoch nicht von Frank. Der Junge war womöglich schon darin anders als die andern, daß er zugab, verliebt zu sein. »Cool bleiben, keine tiefen Gefühle zeigen« war das Motto der Jugend. Viele junge Leute glaubten nicht mehr an die Ehe; sie wollten einfach zusammenleben und, manchmal, auch Kinder haben.
Aber er schweifte ab. Frank hatte gesagt, er wolle sich verlieren. Meinte er damit Verpflichtungen gegenüber der Familie Pierson, deren er sich entledigen wollte? Selbstmord? Einen Namenswechsel? Woran würde der Junge sich klammern wollen? Toms Müdigkeit setzte seinem Grübeln ein Ende. Draußen vor dem Fenster rief eine Eule: » Chou -ette, chou -ette«. Schon Anfang September glitt Belle Ombre in den Herbst und den Winter hinüber.
20
Héloïse fuhr Tom und den Jungen zum Bahnhof von Moret. Sie hatte angeboten, die beiden bis nach Paris zu bringen, aber da sie am Abend ihre Eltern
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