Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
Denk an die Sterne Fride. Wenn wir Licht anmachen, könnte uns jemand entdecken.«
Keine von ihnen fragt noch mehr.
»Wenn wir hier sitzen, dann müssen wir nach Lichtern Ausschau halten. So können wir herausfinden, ob andere Menschen in der Nähe sind. Seht ihr den spitzen Berg ganz da hinten?«, fragt er und zeigt aus dem Fenster. »Dort liegt die Stadt. Diese Richtung müsst ihr besonders gründlich beobachten.«
Sie starren in die Dunkelheit, aber alles, was sie sehen, sind die dunklen Umrisse der Berge und Inseln.
Fride zieht an Papas Ringfinger.
»Wieso hast du einen Ring am Finger?«, fragt sie.
»Das weißt du doch. Das ist mein Ehering«, sagt Papa und dreht sich zu ihr um.
»Hat Mama denselben?«
»Ja. Nur, dass in ihrem mein Name steht.«
»Und Mamas Name steht in deinem?«
»Ja.«
»Also seid ihr irgendwie immer zusammen.«
»Ja. Das sind wir.«
»Glaubst du, dass Mama noch lebt?«
»Nein. Ich glaube nicht«, sagt Papa und schaut wieder aus dem Fenster. »Aber es ist komisch – sie ist trotzdem die ganze Zeit bei uns.«
»Wie denn?«
»Ihr merkt es vielleicht nicht so sehr, aber ich schon. Als ich Mama kennenlernte, da war ich vor allem mit meinen Bildern und Studien beschäftigt. Ich war nicht besonders gut darin, Dinge zu regeln. Ohne Mama würden wir jetzt nicht hier sitzen.«
»Aber sie ist doch in der Stadt geblieben.«
»Ja, aber es ist, als wären ihre Gedanken hier. Sie sagen mir, was ich tun soll.«
»Und was sagen sie dir jetzt?«, fragt Fride.
»Dass bald Schlafenszeit ist. Genau das sagen sie mir jetzt«, sagt Papa und lacht.
Es tut so gut, sein Lachen zu hören und ihn lächeln zu sehen. Nanna versucht, sich an das schöne Gefühl zurückzuerinnern, als sie noch alle vier zusammen waren, aber sie schafft es nicht. Nicht richtig.
»Erzähl uns von damals, als wir noch zu viert waren«, sagt Nanna.
»Ich weiß nicht«, sagt Papa. »Das war ja nicht lange. Wir waren gerade erst umgezogen und so glücklich über unsere neue Wohnung. Wir mussten unser Segelboot verkaufen, um sie uns leisten zu können. Mama liebte es, auf dem Boot zu sein, aber wir brauchten ein neues Zuhause, weil du unterwegs warst, Fride. Und die Wohnung war wunderschön. Alles erinnertemich an Mama, das Licht, die Bilder und Möbel, die graue Decke, in die sie sich so gerne kuschelte, wenn sie erschöpft von der Arbeit kam. Ich erinnere mich noch genau an den ersten Abend, als wir Fride aus dem Krankenhaus geholt haben. Du warst so stolz, Nanna. Nach dem Essen wolltest du Fride mit in dein Bett nehmen. Wir legten euch schlafen und dann saßen Mama und ich im Wohnzimmer, die Balkontür stand offen, und ich hörte das Rauschen der Stadt. Da dachte ich, dass alles gut war und dass es immer gut bleiben würde«, sagt Papa.
Die letzten Worte verschwinden fast.
Nanna schaut zu Papa. Er sieht traurig aus und als sie seine Stimme hört, wird ihr bewusst, dass er Mama genauso sehr vermisst wie sie und Fride, aber darüber will sie lieber nicht nachdenken.
Dann räuspert Papa sich und fährt fort: »Es gibt ein Foto von uns vier. Wir haben es in den Flur gehängt, als Fride aus dem Krankenhaus kam. Es war ein schönes Gefühl, es aufzuhängen. Daran erinnere ich mich: dass alles schön war.«
Nanna rollt sich auf dem Sofa zusammen und spürt dem wohligen Gefühl nach, das ein bisschen traurig ist, ohne dass es ihr etwas ausmacht. Draußen funkeln die Sterne über der dunklen Erde. Und nach einer Weile fallen ihr die Augen zu und Papa sagt: »Jetzt ist Schlafenszeit.«
Sie tapsen zur Luke und klettern nach unten in den Bunker, legen sich in ihre Betten und denken dabei an das Meer und die Fische, an die Wellen und das Boot, das sacht auf dem Wasser schaukelt.
7
Am nächsten Tag sind Fride und Nanna früh wach. Nanna hört Fride im Bett singen.
Ruder, ruder zur Schäre fort, viele Fische gibt es dort, für den Vater, die Mutter, die Tochter, den Sohn und einen für den, der der Angler war und das ist die kleine Fride – hurra!
»Freust du dich auf den Angelausflug?«, fragt Nanna.
»Ja, wir sehen bestimmt eine Menge Fische. Ich will vorne im Boot sitzen. Darf ich? Was meinst du?«
»Ja, das darfst du sicher. Es macht Spaß, vorne zu sitzen. Ich war früher oft angeln und es ist so spannend, wenn man den Ruck an der Schnur spürt.«
»Den Ruck?«
»Ja, wenn der Fisch anbeißt.«
»Ach so.«
Sie ziehen sich an und gehen in die Küche. Papa schläft noch. Nanna fängt an, Frühstück zu machen,
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