Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
wandern?«, fragt Fride.
»Nein, ich glaube nicht.«
»Ist es gefährlich?«
»Nein. Da ist ja niemand außer uns«, sagt Nanna und versucht, sich zusammenzureißen. »Wir müssen nur in die Stadt, holen Essen und Medizin und gehen dann direkt zurück zu Papa.«
»Und wie kommen wir an Land?«, fragt Fride.
»Wir rudern«, sagt Nanna und weiß selbst nicht, wie das alles gehen soll. Vielleicht erreichen sie nicht mal das Festland. Solange sie nur nicht aufs offene Meer treiben. Aber sie haben keine Wahl.
So sitzen sie eine Weile schweigend da, bis Fride unruhig wird und anfängt, im Zimmer hin und her zu laufen.
»Wollen wir Papa nicht bald wecken?«, fragt sie.
»Noch nicht«, sagt Nanna und schaut zu ihrem Vater, der mit offenem Mund daliegt und leise schnarcht.
Fride geht zu ihm und streichelt ihm über die Wange. Nanna sagt nichts.
»Papa. Du musst aufwachen«, sagt Fride.
Papa macht langsam die Augen auf und lächelt.
»Das hat gutgetan«, sagt er.
»Was sollen wir mitnehmen?«, fragt Nanna.
Papa hustet und richtet sich auf dem Sofa auf.
»Ihr braucht nicht viel. Im Hauswirtschaftsraum liegt ein blauer Rucksack. Nehmt den«, sagt er. »Packt euch etwas zum Anziehen ein, Wollpullover, Taschenlampe, Wasserflasche und etwas zu essen.«
»Wir könnten unser Spielzelt mitnehmen«, sagt Fride.
»Ihr braucht kein Zelt. Ihr könnt in leerstehenden Häusern schlafen, aber seid vorsichtig, wenn ihr reingeht. Wartet lange genug, um sicher zu sein, dass es wirklich leer ist. Jetzt geht nach unten und schaut, was ihr findet«, sagt Papa.
»O.k.«, sagt Nanna und geht in den Bunker.
Sie holt den Rucksack und sucht die Sachen zusammen, die Papa aufgezählt hat. Sie wünschte, das Packen würde länger dauern, aber sie brauchen wirklich nicht viel. Im Vorratslager ist sowieso nicht viel zu holen. Ananas und Leberwurst in Dosen, ein paar Tüten Nüsse und verschiedene Kekse. Mamas Tee steckt sie in die Seitentasche. Fride packt auch. Ein paar Spiele, Buntstifte und Spielkarten. Nanna sagt nichts, aber es hilft ihr, dass Fride so geschäftig herumwuselt. Es scheint fast so, als würde sie sich freuen. Sie packen alles in den Rucksack und gehen nach oben. Papa ist wieder eingeschlafen. Fride streichelt ihm über die Wange und er öffnet die Augen ein wenig.
»Meine Mädchen«, sagt er und drückt sie fest an sich. Nanna und Fride pressen sich an ihn, sie atmen seinen Geruch ein und spüren die Wärme seines Körpers.
»Wenn ihr in die Wohnung kommt, dann seht im Klavier nach. Dort hat Mama die Medizin versteckt. So haben wir es abgesprochen. Der Schlüssel liegt im Blumentopf nebender Tür. Das war unsere feste Stelle. Kannst du dich erinnern, Nanna?«
Nanna nickt.
»Aber wie sollen wir die Wohnung finden?«, fragt Nanna.
»Unsere Wohnung ist nah bei dem großen Park. Ich zeichne euch eine Karte. Fride, bring mir den Block und einen Stift aus dem Bücherregal«, sagt Papa.
Fride holt die Sachen und Papa fängt mit zittriger Hand an zu zeichnen.
»Seht ihr? Hier ist die Insel und das ist der Fjord. Dort auf der anderen Seite ist die Anlegestelle. Da rudert ihr hin, dann folgt ihr dem Weg bis zur Schnellstraße und dort geht ihr nach links. Die Schnellstraße führt direkt in die Stadt. Wenn ihr angekommen seid, folgt ihr der großen Hauptstraße. Haltet nach dem Park Ausschau«, sagt er, dann legt er sich wieder hin. Der Stift fällt auf den Boden. Er macht eine Pause und sagt: »Alles wird gut. Ich warte auf euch. Geht jetzt, ich komme zurecht.«
Fride fängt an zu weinen. Papa schaut Nanna traurig an und nimmt sie beide noch einmal in den Arm.
»Geht jetzt. Und pass gut auf Fride auf«, flüstert er Nanna ins Ohr.
10
Das Rudern geht schwer. Es kommt Nanna vor, als würde das Boot sich durch den Wind und die unruhigen Wellen kaum vorwärtsbewegen. Nicht wie an dem Tag, an dem sie mit Papa Angeln waren. Sie strengt sich an, aber es scheint, als hätten die Ruderblätter gar keine Kraft. Sie durchschneiden das Wasser oder rutschen weg, als würde alleine das Meer ihre Richtung bestimmen. Fride liegt unter einer Decke im Bug und späht an Land.
Der Nebel hat sich ein bisschen gelichtet, aber der Himmel ist immer noch grau. Die Landschaft verschwimmt mit dem Himmel, braun und grau, dazwischen ein paar kahle, schwarze Baumstämme. Da ist nichts Lebendiges. Nur toter, vermoderter Wald. Die Fenster in den Häusern am Kai sind dunkel. Nannas Arme sind schon ganz steif und die Ruderschläge werden schwerer
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