Der Junge, der Träume schenkte
ließ sie in seiner Tasche verschwinden. »Wo ist Ruth?«, fragte er dann.
Der Alte grinste und schlug einen schmalen, von einer gepflegten Buchsbaumhecke gesäumten Kiespfad ein. Christmas folgte ihm. Bei einer großen Eiche angelangt, deutete der Alte mit dem Stock auf die weiße Rückenlehne eines Liegestuhls und einen kleinen Bambustisch. »Ruth«, rief er. »Schau mal, wer zu Besuch gekommen ist.«
Zunächst sah Christmas, wie eine verbundene Hand sich auf die Lehne des Liegestuhls stützte. Und dann einen langen, dunklen Lockenschopf, der hinter der Rückenlehne zum Vorschein kam.
Und inmitten der Locken leuchteten Ruths grüne Augen.
17
New Jersey, 1922
»Hallo«, sagte Christmas.
»Hallo ...«
Schweigend sahen sie sich an. Christmas stand da und wusste nicht, wohin mit seinen Händen, bis er sie schließlich in den Hosentaschen vergrub. Ruth saß da, eine dunkle Kaschmirdecke über den Beinen und zwei Modezeitschriften, die Vogue und die Vanity Fair, auf dem Schoß.
»Nun«, machte sich der alte Isaacson bemerkbar, »ich nehme an, ihr Kinder wollt allein sein.« Mit verständnisvoll-zärtlichem Blick erforschte er Ruths Reaktion. »Wenn es dir recht ist«, fügte er halblaut hinzu und lächelte sie an.
Ruth nickte.
Der Alte streichelte seiner Enkelin über das Haar, und während er über den schmalen Pfad davonging, schlug er rhythmisch mit dem Stock gegen die Buchsbaumhecke. »Das Essen ist bald fertig«, rief er noch, ohne sich umzudrehen.
»Mir scheint, den Stock trägt er eher als Waffe bei sich, nicht als Gehhilfe«, bemerkte Christmas.
Ruth verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln und senkte den Blick.
»Nett hier«, sagte Christmas, während er von einem Fuß auf den anderen trat.
»Setz dich doch«, bat Ruth.
Christmas schaute sich um und entdeckte in etwa zehn Schritten Entfernung eine Bank aus Holz und Metall. Er ging hinüber und setzte sich. Auf der Bank lag eine Ausgabe der New York Post . Ruth sah zu Christmas hinüber. Sie lächelte verlegen. Dann errötete sie und schob ihre verbundene Hand unter die Decke.
»Wie geht’s dir?«, erkundigte sich Christmas bewusst besonders leise.
»Wie bitte?«, fragte Ruth.
Christmas rollte die Post zusammen und sprach hindurch, als wäre sie ein Sprachrohr. »Wie geht’s dir?«
Ruth lächelte. »Gut«, rief sie.
»Ich kann dich nicht hören«, gab Christmas wieder durch die Zeitung zurück. »Du brauchst auch ein Sprachrohr.«
Ruth lachte und rollte die Vanity Fair zusammen. »Gut«, sagte sie.
Christmas stand von der Bank auf und ging zu Ruth hinüber; auf der Wiese neben dem Liegestuhl breitete er die Zeitung aus und ließ sich darauf nieder. Ruths Augen waren von einem noch intensiveren Grün, als er es in Erinnerung hatte. Ihr Gesicht war noch immer gezeichnet. Zwei veilchenblaue Blutergüsse prangten zu beiden Seiten ihrer Nase, eine helle Narbe an der Oberlippe. Sie war viel hübscher, als er es unter alldem Blut hatte erahnen können.
»Das Radio ist toll«, sagte Christmas.
Wieder lächelte Ruth und wich seinem Blick aus.
»Da, wo ich wohne, hat niemand sonst eins«, fuhr Christmas fort.
Ruth spielte mit dem Titelblatt der Vanity Fair.
»Es hat sogar Röhren«, sagte Christmas. »Wusstest du, dass man warten muss, bis sie aufgeheizt sind, bevor man etwas hört?«
Ruth nickte, ohne ihn anzusehen.
»Danke«, sagte Christmas.
Mit gesenktem Blick presste Ruth die Lippen aufeinander. Sie konnte sich kaum an diesen Jungen erinnern. Nur an seinen Namen, diesen komischen Namen. Und an seine Arme, die sie ins Krankenhaus getragen hatten. Und an seine Stimme, die ihren Namen gerufen hatte, als man sie auf die Trage gelegt hatte. An sein Aussehen jedoch konnte sie sich nicht erinnern. Sie hatte nicht gewusst, dass er blondes Haar hatte und eine Locke ihm über die pechschwarzen Augen fiel. Sie erinnerte sich nicht an diesen offenen, beinahe frechen Blick. Auch nicht an das so ansteckende Lächeln. Ruth errötete. Sie erinnerte sich an kaum etwas, aber sie wusste, dass dieser Junge wusste, was ihr zugestoßen war. Und sie war sicher, dass er sie auch jetzt nicht als die ansah, die sie war, sondern als die, die sie gewesen war, als er sie gefunden hatte. Und folglich wusste er auch ... er wusste auch ...
»Der Kiefer ist wieder eingerenkt«, stieß Ruth hervor, während sie Christmas einen trotzigen Blick zuwarf. »Sie haben mir die Nase wieder gerichtet, zwei falsche Zähne eingesetzt, die Rippenbrüche sind verheilt, die
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