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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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inneren Blutungen gestillt und auf dem linken Ohr höre ich zwar wenig, aber das müsste sich mit der Zeit geben.« Dann zog sie die verbundene Hand unter der Decke hervor. »Gegen das hier kann man allerdings nichts tun.«
    Nein. Stumm schüttelte Christmas den Kopf. Während er vergeblich nach Worten suchte, sah er sie mit leicht geöffnetem Mund schweigend an. Sein Blick verriet seine Wut über das, was Ruth hatte durchmachen müssen.
    »Nichts und niemand kann mir je den Finger wieder wachsen lassen«, setzte Ruth in aggressivem Ton hinzu.
    Christmas schloss den Mund, konnte aber den Blick nicht von ihr abwenden.
    »Ich werde immer nur bis neun zählen können«, sagte Ruth da und lachte gezwungen, voller Zynismus wie eine Erwachsene. So nämlich fühlte sie sich nun. Wie ein Mädchen, das gezwungenermaßen in einer einzigen Nacht hatte erwachsen werden müssen.
    »Wäre ich dein Lehrer«, antwortete Christmas leise, »würde ich die Mathematik für dich neu erfinden.«
    Auf einen solchen Kommentar war Ruth nicht gefasst gewesen. Sie war auf Mitleid gefasst gewesen, auf ein paar höfliche Floskeln. War es doch ihre einzige Absicht gewesen, den dummen blonden Jungen mit den pechschwarzen Augen mindestens ebenso verlegen zu machen, wie sie selbst es war bei dem Gedanken, dass er über ein furchtbares Detail ihres Lebens Bescheid wusste, über eine Verstümmelung zwischen ihren Beinen, die zu erwähnen sie nicht den Mut gehabt hatte.
    »Und wäre ich Präsident Harding, würde ich alle Amerikaner dazu verpflichten, nur bis neun zu zählen«, sagte Christmas.
    Noch immer hielt Ruth ihre Hand in die Höhe wie eine blutgetränkte Flagge. Sie spürte, dass etwas in ihr aufbrach, und befürchtete, in Tränen auszubrechen. »Du bist ein Idiot«, fuhr sie ihn wütend an und wandte sich, die Augen aufgerissen, damit sie rasch wieder trockneten, von ihm ab. Hinter ihrem Rücken hörte sie es rascheln. Als sie sicher war, nicht weinen zu müssen, drehte sie sich wieder um. Christmas saß nicht mehr auf dem Boden. Suchend blickte sie sich um und sah ihn jenseits der Wiese, dort, wo der schmale Pfad endete, in das Auto ihres Großvaters steigen. Er ist schrecklich angezogen, dachte sie. Wie arme Leute, wenn sie sich in ihren Sonntagsstaat werfen. Wie die Fabrikarbeiter auf dem Fest, das Großvater zu Hannukkà gibt. Ihre Kleider sind immer zu neu und gleichzeitig zu alt. Für einen Augenblick hatte Ruth Angst, Christmas würde wieder gehen.
    Da drehte er sich zu ihr um und lächelte. Auch dort hinten, jenseits der Wiese, wirkte sein Lächeln offen. Er warf den Kopf zur Seite, um sein Gesicht von der blonden Locke zu befreien, die ihm frech in die Stirn fiel. So strahlend. Weizengelb. Wie manch alter Goldschmuck ihrer Großmutter. Und seine Augen, die doch tiefschwarz waren, leuchteten sogar auf die Entfernung. Wie von einem inneren Licht erhellt. Sie beobachtete, wie er mit einem Paket hantierte und dreimal etwas Buntes wegwarf. Und dann kam Christmas über den schmalen Pfad wieder zurück. Sein Gang war geschmeidig und verriet zugleich Nervosität. Beinahe ruckartig warf er die Beine nach vorn, aber es war, als liefe er durch Wasser. Und wenn sein Fuß den Boden berührte, neigte sein Kopf sich keck ein wenig zur Seite.
    Als Christmas schließlich vor ihr stand, hielt er ihr einen Blumenstrauß hin, der in unansehnliches, unten angefeuchtetes Packpapier eingewickelt war.
    Ruth rührte sich nicht. Den Blumen schenkte sie keinen Blick.
    »Ich bin ein Idiot, du hast recht«, sagte Christmas und legte den Strauß behutsam auf die Kaschmirdecke.
    Da endlich blickte Ruth auf die Blumen. Sie zählte sie. Es waren neun. Neun scheußliche Arme-Leute-Blumen. Und abermals kamen ihr die Tränen.
    »Ich würde dich ja gern jeden Tag besuchen, aber ...«, sagte da Christmas, die Hände wieder in den Taschen und von einem Fuß auf den anderen tretend, in verlegenem Ton, dem er etwas Scherzhaftes zu geben versuchte, »tja, du wohnst nicht gerade um die Ecke.« Er grinste.
    »Wir leben nicht das ganze Jahr hier. Das Schuljahr über wohnen wir in Manhattan. In zwei Wochen etwa, sobald ich wieder ganz gesund bin, werden wir wohl zurückfahren«, erwiderte Ruth zu ihrer eigenen Überraschung, als bedauerte auch sie es, ihn nicht öfter sehen zu können. Und nun konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. »Wir haben eine Wohnung in der Park Avenue.«
    »Ah, ja ...« Christmas nickte. »Von der habe ich schon gehört.« Er unterbrach sich und

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