Der Junge mit dem Herz aus Holz
vielleicht was anderes drin ist, das ist alles.«
»Aber die Puppen hier sind ›was anderes‹«, erwiderte der alte Mann und lächelte ihm zu. »Die Puppen unten im Laden – die habe alle ich geschnitzt. Aber die hier sind die letzten erhaltenen Marionetten, die mein Vater gemacht hat. Sie bedeuten mir wirklich sehr viel, weil sie mich an ihn erinnern, genau wie der große Baum draußen vor dem Haus. Sie sind alles, was ich von ihm noch habe.«
»Sie sind bestimmt sehr interessant«, sagte Noah, den die Puppen jetzt doch neugierig machten. »Aber warum sind sie nicht unten bei den anderen?«
»Das geht nicht«, sagte der alte Mann. »Meinem Vater hätte das nicht gefallen. Jede Marionette erzählt eine Geschichte, musst du wissen. Eine ganz spezielle Geschichte. Deshalb müssen sie zusammenbleiben.«
»Also – ich mag Geschichten«, sagte Noah grinsend und wählte auf gut Glück noch eine Puppe aus. Es war eine ziemlich korpulente Frau mit einem mehrfachen Doppelkinn und einem wütend strengen Gesichtsausdruck. »Welche Geschichte erzählt diese Puppe?«
»Ach, das ist Mrs Shields«, rief der alte Mann lachend. »Meine erste Lehrerin.«
»Sie haben eine Marionette von Ihrer Lehrerin?« Noah zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Da muss es Ihnen in der Schule ja sehr gut gefallen haben.«
»Nur teilweise«, erwiderte der alte Mann. »Aber von mir aus wäre ich nicht in die Schule gegangen. Poppa wollte das. Mein Vater, sollte ich sagen. Aber das ist eine andere Geschichte. Es interessiert dich sicher nicht, wie ich hierhergekommen bin.«
»O doch!«, rief Noah schnell.
»Tatsächlich?« Der alte Mann strahlte. »Also gut. Ich werde mich kurz fassen. Aber wo soll ich anfangen? Das ist die Frage. Im Wald, würde ich denken.« Er überlegte kurz, dann nickte er, als fände er seine Idee überzeugend. »Ja, genau«, sagte er. »Im Wald.«
Kapitel 7 Die Mrs-Shields-Marionette
Poppa, mein Vater (sagte der alte Mann), beschloss eines Tages, dass wir unsere gemütliche Hütte am Waldrand verlassen und tiefer in den Wald hinein ziehen sollten. Die Bäume dort waren so alt, dass sie für die Spielsachen und Marionetten, die Poppa Tag für Tag schnitzte, viel besseres Holz lieferten, und ihm gefiel auch die Idee, noch mal neu anzufangen. In dem Jahr vor dem Umzug hatte sich das Leben für uns sehr verändert. Als wir von dem Dorf hier hörten – nicht weit von dem ersten Dorf und nur noch ein kleines Stück hinter dem zweiten –, fanden wir, dass es klang wie der perfekte Ort für unseren Neuanfang.
Ich war erst acht Jahre alt, aber mein Leben war bis dahin nicht gerade normal verlaufen. Ich hatte eine sehr freche Seite, richtig draufgängerisch, was bei Jungen in dem Alter öfter vorkommt, aber ich geriet deswegen häufig in besonders brenzlige Situationen. Irgendwie traf ich immer etwas eigenwillige Leute, die mich auf die schiefe Bahn lockten. Ich brauchte zum Beispiel nur die Straße entlangzugehen, um eine Flasche Milch zu kaufen – und schon wurde ich von einem gnadenlosen Kidnapper in einen Wanderzirkus verschleppt. Oder ich musste für einen Herrn schuften, der es alles andere als gut mit mir meinte. Und jedes Mal, wenn ich von meinen Eskapaden nach Hause kam, versprach ich meinem Vater, dass ich mich von nun an nie mehr ablenken lassen würde. Aber aus irgendeinem Grund habe ich mein Versprechen früher oder später wieder gebrochen. Ich bin nicht stolz darauf, aber so war ich eben, und ich kann es nicht mehr ändern.
Aber als ich acht wurde, erklärte ich, von nun an wolle ich ein braver Junge sein, und um diesen Entschluss zu unterstützen, fand Poppa es sinnvoll, wenn wir an einem Ort, wo man uns beide nicht kannte, ein neues Leben anfangen würden.
»Nach allem, was vorgefallen ist«, sagte Poppa, als er mir seinen Plan erläuterte, »brauchen wir beide unbedingt eine Veränderung, finde ich. Wir sollten noch einmal ganz von vorne beginnen.«
Und so kam es, dass wir eines Morgens, bevor die Sonne aufging, bevor die Hunde aufwachten, bevor der Tau aufhörte, die Wiesen zu benetzen, in den Wald zogen. Unterwegs wechselten wir mit niemandem ein Wort und machten erst halt, als wir ins Dorf kamen.
Poppa fragte mich, ob ich mich hier zu Hause fühlen könnte, und ich musste gar nicht lange überlegen. »Ja«, sagte ich. »Ja, ganz bestimmt.«
Der erste Dorfbewohner, dem wir begegneten, war ein junger Esel. Er war gerade dabei, Gras zu verspeisen, das am Rand der Dorfstraße wuchs. Als er auf
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