Der Junge mit den blauen Haaren
alles auch nicht erklären kann.
„Frag‘ nicht, Kim“, sagt er, „ich weiß nicht, warum Castillian plötzlich mit einer jahrhundertealten Tradition bricht. Eure Zimmer wurden vor kurzem sozusagen aus dem Boden gestampft.“ Aus dem Dachboden sozusagen. „Wann?“, frage ich und weiß nicht, warum ich das Gefühl habe, dass meine Frage überhaupt wichtig sein könnte.
Tiger sieht fragend zu Rheena. „Ich glaube, das war vor drei Monaten“, antwortet sie, „ja, genau. Die Osterferien waren gerade zu Ende, da ging das mit dem Baulärm hier los.“
Ich schlucke.
War es nur ein Zufall, dass dies genau die Zeit war, als ich gerade mal wieder einen meiner schusseligen Unfälle hatte … den letzten übrigens …?
Ich schüttele meinen Kopf. Langsam werde ich wirklich paranoid.
Doch Kays ernst auf mich geheftete Augen lassen mich den Gedanken nicht gänzlich abschütteln.
„Noch was, das wir wissen müssen?“, frage ich und bemühe mich, Lockerheit in meine Stimme zu legen.
„Nur, dass ihr wirklich ganz alleine auf dieser Seite des Gebäudes seid. Lediglich Mrs. McMillan hat ihre Privaträume unter euch.“ Upps! Ich überlege, ob bei ihr wohl der Kronleuchter von der Decke gefallen ist und schaudere.
Sofort spüre ich Kays Hände, die sanft über meine Arme reiben.
„Ist dir kalt?“
„Nein, ähm, ich hab nur grad an etwas Unangenehmes gedacht“, bringe ich hervor und schaffe es, ihn anzulächeln.
„Lasst uns noch ein bisschen nach draußen gehen!“, schlägt Rheena vor. Ihr Vorschlag wird einstimmig angenommen. Schließlich ist es noch hell und Nachtruhe erst um 23.00 Uhr. Wir haben also noch eine knappe Stunde.
Gemeinsam, jeder will der erste sein, stürmen wir die breite Eingangstreppe hinaus und finden uns nach wenigen Metern in einem riesigen Park wieder. Obst- und Nadelbäume wechseln einander ab und überall sind kleine Trampelpfade im sauber gemähten Rasen zu erkennen.
Wieder schafft es Rheena, an meiner Seite zu gehen. Kay wird von den drei Jungs umringt und sie albern bereits herum.
Gott, wie ich ihn um diese Lockerheit beneide!
Ich kämpfe noch mit mir. Kein Wunder! Ich weiß nicht wirklich, wie ich mich verhalten soll.
„Läuft da was zwischen dir und Kay?“
Abrupt bleibe ich stehen und sehe Rheena mit knallroten Wangen an. Sie blinzelt mich keck an.
„Nein … nein. Natürlich nicht. Ich habe ihn doch auch gerade erst kennengelernt. So wie euch“, quetsche ich angestrengt hervor.
„Aber vermutlich bereits ein bisschen intensiver“, kichert Rheena, aber es ist kein gehässiges Kichern. Eher so, wie junge Mädchen vermutlich kichern. Nehme ich zumindest an. Ich weiß es ja nicht.
Nie zuvor habe ich ein größeres Gefühl der Leere verspürt, als gerade eben. Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung, was in der normalen Welt der Teenager abgeht.
„Du musst dich nicht genieren“, fährt Rheena fort und mustert mich eingehend, „ich habe gesehen, wie du reagiert hast, als euer gemeinsames Badezimmer zur Sprache kam.“
Ich starre Rheena an.
„Sag schon!“, kichert sie und hüpft aufgeregt von einem Fuß auf den anderen, „wer von euch hat wen nackt unter der Dusche erwischt?“
Jetzt ist der Knoten geplatzt. Ich pruste los und Rheena hakt sich sofort bei mir ein. Ein unglaublich intensives Glücksgefühl durchströmt mich. So fühlt es sich also an, wenn zwei Mädels miteinander herum albern .
„Keiner war nackt“, kichere ich.
„Aber anständig gekleidet wart ihr auch nicht, oder?“
Meine Wangen werden sofort sehr gut durchblutet. Rheena nickt wissend.
„Hat er einen heißen Body?“, wispert sie aufgeregt und verdreht ihre Augen. Schließlich nicke ich mit dunkelroten Wangen.
„Ich habe es mir gedacht“, sagt sie ernsthaft, „er sieht absolut heiß aus!“ Ein schmachtender Blick begleitet den Seufzer, den sie ausstößt. „Hey“, lacht sie dann, „mach dir keinen Kopf. Ich werde dir nicht im Weg stehen.“
„Was? Wie meinst du … also … da läuft nix …“
Rheena bleibt stehen und hält mich am Arm fest.
„Kim, ich bin nicht blind und schon überhaupt nicht blöd. Du siehst Kay an, als würdest du ihn schon ewig kennen …“ Tu ich ja auch … aus meinen Träumen … „Und Kay sieht aus, als wolle er dich vor irgendwelchen Ungeheuern beschützen“, fährt Rheena ungerührt fort. Sie nickt mit dem Kopf in Richtung der Jungs, wo Kay sich gerade umdreht und erleichtert scheint, als er mich neben Rheena entdeckt. „Siehst du?“
Ich nicke. Rheena hat Recht.
Ab
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